#6 Auch Brüste dürfen Weinen

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Man weiß eigentlich gar nicht, wer von den Anwesenden wirkliche Eltern sind. Es sind sicher auch deren Eltern und Verwandte dabei. Oder Menschen, die gar kein Kind begraben lassen, sondern aus anderen Gründen der Einladung gefolgt sind. In der Aufbahrungshalle ein Geistlicher. Eine Zeremonie. Ungefähr zwanzig Kinder in verschiedensten Entwicklungsstadien liegen in der Kiste. Am Friedhof eine kleine, dafür vorbereitete Grube. Ein halbes Jahr haben Marlene und Stefan gewartet, weil Bestattungen in Gemeinschaftsgräbern für Sternenkinder am Sankt Barbara Friedhof nur zwei Mal im Jahr stattfinden. Sie verabschieden sich von Vincent.

Eine Weltkarte zum Rubbeln hängt im Vorhaus. Wir sitzen an einem großen Esstisch in der geräumigen Stadtwohnung. Am Fenster zum Balkon stehen Pflanzen und ein Kärtchen mit winzigen blauen Fußabdrücken. Für mich ein spannender Moment, weil zum ersten Mal die männliche Seite mit dabei ist. Mir fehlt das dritte Mikrofon. Nach kurzem Geplauder übers Reisen rollen wir die Geschichte aus. Pragmatisch gefasste und dann glänzende Augen. Die Nuancen in den Stimmen lassen gewisse Ereignisse heute noch beben. Ich ignoriere eine Träne. Mich fasziniert die Verbundenheit des Paares, sie strahlen Kraft aus.

Laut Gesetzgebung hat man bei einer Fehlgeburt vor der dreiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche Anspruch auf drei Krankenstandstage. Alles danach erhält vier Wochen und den Titel „Frühgeburt“. Natürlich kann der Hausarzt hier noch individuell nachjustieren. Grundsätzlich hatte Marlene gute Erfahrungen im Krankenhaus gemacht, auch wenn es Momente der Irritation gab. Es ging ja doch relativ schnell. Eine perfekte Schwangerschaft, dann ein harter Bauch, ein Bakterienhaufen im Fruchtwasser. Nichts total Ungewöhnliches. Antibiotika und eine Woche Krankenhaus. Man wird eingeliefert und Marlene weiß, dass etwas nicht stimmt. Nach der zweiten Untersuchung öffnet sich der Muttermund. Es ist unaufhaltsam, das Baby kommt.

Ja, wir machen das jetzt. Ich bin da für euch. Überlegt’s euch schonmal einen Namen. – Und da hab ich mir gedacht, jetzt wollt’s mich verarschen.

Was soll das Ganze? Jetzt sagen die, ich soll ein Kind zur Welt bringen, von dem ich danach überhaupt nichts hab und soll mir auch noch einen Namen überlegen? Wär’s nicht viel leichter, sie setzen mich in Narkose und schneiden mir das Ding raus? – Sowas kommt einem surreal und komplett sinnbefreit vor. Im Nachhinein sind beide froh darüber. Denn der Name ist ein wichtiger Anker für die Greifbarkeit und Realität, in der Vincent heute noch Teil der Familie ist.

Im Kreißsaal sind nebenan andere Mütter. „Da wird man was hören, aber das hilft jetzt eben nicht viel. Da müssen wir jetzt durch.“, sagt die Hebamme. Dann bringt man es auf die Welt und man kommt in einen privaten Raum auf der Internen. Weg von den Schwangeren. Ein taktvoller Zug. Dann hat man Zeit und er wird gebracht. Stefan erzählt, dass er ihn in Händen hielt. Alles schon da: kleine Finger und komplett ausgebildete Zehen. Zweihundertfünfzig Gramm. Wie ein Stückerl Butter.

Die Erinnerung daran ist trotzdem hart. Wie kommt man jetzt wieder zurück in ein normales Leben? Wie ruft man seine Mutter an und erklärt, dass es kein Baby mehr gibt? Wie erzählt ein werdender Vater seinen taffen Businesskollegen, dass jetzt alles doch nicht so wird, wie angekündigt? – Ist man dann noch stolz? Wie formuliert man das? Marlene und Stefan wussten von Anfang an, dass ihnen das nicht peinlich ist. Mit jedem Mal reden, wird man ein Stückchen leichter. Sogar Marlenes Chef – eine sonst wohl weniger nahbare Autoritätsperson – meinte aus eigener Erfahrung, dass das Loch natürlich nie weggehen, aber der Schmerz weniger wird.

Wir waren wellnessen, so herrlich! Ein Wochenende ganz zu zweit. Das wirst du auch bald kennen lernen. Bei euch ist es ja bald soweit.

Eine unwissende Kollegin während einer Videokonferenz.

Es war die Zeit des Home Office. Und man hatte ja kaum Gelegenheit, allen KollegInnen Bescheid zu geben. Nur die engsten waren eingeweiht. Wäre es nicht besser gewesen, wenn jemand gesagt hätte: „Marlene ist jetzt einen Monat nicht da. Nicht weil sie Grippe hat oder sowas. Sondern weil sie ihr Kind verloren hat.“ Das wäre viel einfacher gewesen. Aber da tritt wohl eher die Unbeholfenheit zu Tage. Die Leute sagen lieber nichts und wollen damit beschützen. Aber Marlene hat es immer mehr geholfen, wenn jemand gesagt hat, „Ich weiß, was passiert ist.“

Und das kommt ja auch vor, wenn auch oft verzögert. Es ist quasi das „Klassische“, dass Leute im passenden Moment an dich herantreten und erzählen, dass sie „das“ kennen. Vor allem bei männlichen Kollegen hat Stefan eine neue Ebene entdeckt. Plötzlich ist da nicht mehr nur das Geschäftliche. Die Tonalität der Gespräche ändert sich. Privaten Erlebnissen wird Raum zugestanden. Emotionen dürfen durch die verhärtete Schale sickern. Ein knappes „Ja, ich hab das auch erlebt.“ reicht da vollkommen, um einen Konnex aufzubauen und Anteilnahme zu bekunden. Mehr braucht es oft nicht, um Betroffenen unter die Arme zu greifen und die Stigmata der öffentlichen Betretenheit abzuschütteln. Das tut gut.

Was natürlich nicht leicht ist, wenn man beim Frühstück sitzt und auf einmal rinnt man aus.
Und es ist aber nix da.

Das Positive daran: Der Körper weiß, was zu tun ist. Die natürliche Geburt lässt ein Programm ablaufen. Obwohl das Kind nicht überlebt hat, kommt nach drei Tagen der Milcheinschuss. Was dann zu der paradoxen Situation führt, dass etwas genährt werden soll, das es nicht gibt. Marlene sitzt im nassen Oberteil am Frühstückstisch und das nächste Kapitel öffnet sich. Die Stadien der Trauer, das Leugnen und alles was dazu gehört. Die Hebamme erklärt: „Auch Brüste dürfen weinen.“ Und sie gestehen sich ein, dass das alles dazu gehört.

Und dabei waren sie beide erstaunt, als sie zwei Tage nach der Geburt von Vincent innerlich wussten, dass sie unbedingt ein Kind haben wollen. Irgendwie bestärkt durch das Erlebte und den Glauben, dass man es „schaffen“ kann. Denn der Körper hat es ja bewiesen, dass er einen Menschen fabrizieren kann. Warum sollte er es nicht nochmal schaffen?

Und klar: hat man dann Angst während der nächsten Schwangerschaft. Und man ist doppelt nervös vor jedem Ultraschall. Aber wenn dann der Herzschlag sichtbar ist, fasst man jedes Mal wieder neuen Mut. – „Vor allem der Moment wo wir ihn gehalten haben, war so schön, dass wir gewusst haben, das wollen wir. Der Moment, der uns zusammenschweißt. Dass das UNSER Kind ist. Das wollen wir haben.“, erinnert sich Stefan.

Und sie wissen, dass sie als Paar auf ein ganz anderes Level gekommen sind. In dieser einen Nacht. „Und natürlich auch als Mensch wächst man an so intensiven Erlebnissen. Man wird irgendwie anders“, meint Marlene. Kurz danach beschließen sie zu heiraten, sind heute Eltern von Paulina und erwarten derzeit einen Sohn.

By remo

Über das Projekt

Das Projekt sammelt Geschichten und Stimmen zum Thema ‘Sternenkinder’ und möchte dies in Form von Audioaufnahmen zu einem Animationsfilm verarbeiten.

Die gesammelten Ergebnisse der Gespräche, sowie Einblicke in das Handwerk des Animationsfilms sollen über diese Webseite einem interessierten Publikum zugänglich sein. Ebenso soll dieses Archiv betroffenen Menschen als Inspiration und therapheutische Anlaufstelle dienen.

Das hier beleuchtete Phänomen ist kein Seltenes, und gerät als gesellschaftliches Tabu oft in eine prekäre Nische, die zu seelischen Schieflagen führen kann. Für den Film und die Sammlung werden Menschen gesucht, die anderen Betroffenen neue Sichtweisen und heilende Perspektiven schenken wollen.