#5 Die schwarze Zeit und viel Bahö

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Ihr Mann tut sich schwerer und will öffentlich nicht drüber reden. Darum vereinbaren wir einen Termin zu zweit am Vormittag, die jüngste Tochter kommt zur Oma ins Erdgeschoss. „So viel Tee, wie du schon daheim hast, kannst dein Leben nicht trinken“, hört sie des Öfteren, wenn sie wieder eine neue Sorte nach Hause bringt. Sie kramt und bietet an. Erwähnt nebenbei, dass Rosalie nicht nur ein Sonnenschein, sondern ein „Regenbogenkind“ ist. Was ich nicht wusste: So nennt man Folgegeschwister von Sternenkindern.

Und bevor ich noch die erste Frage stellen kann, sind wir schon mittendrin im Redefluss. Karina ist dreifache Mutter. Das betonen sie und ihr Mann mit Nachdruck, denn es wäre eine Lüge und Selbstbetrug, Henry zu verschweigen. Er wäre das Weihnachtsgeschenk für Marie gewesen, die älteste Tochter. So sehr hat diese sich auf ihn gefreut damals. Heute ist er nach wie vor präsent für sie. Im Spiel, in Gedanken und immer, wenn sie irgendwo eine Feder findet.

Das Regal im Wohnzimmer ist voll mit kleinen Gedenken aller Art. Einerseits Objekte aus der Tröste-Box des Krankenhauses, einiges von Freunden und Verwandten, auch Fotos von Gesicht und Fü´ßchen – letztere etwas bläulich, wegen der Stempelfarbe für den Abdruck auf der Erinnerungskarte. Und vieles was an Engel und den Himmel erinnert. Dinge zum Angreifen und Festhalten. Immer im Bewusstsein, dass er noch da ist. Obwohl die Ungerechtigkeit an manchen Tagen hart zu ertragen ist.


In Österreich, wenn Dein Sternenkind über 500 Gramm hat, hast Du Anspruch auf 8 Wochen Mutterschutz. – Da hat sich keiner drum g’schert, total egal! Aber beim Papa-Monat machen’s alle einen Bahö 1.

Ein gutes Monat hat sie intensiv getrauert, sagt sie. Und das hat sie gebraucht. Gott sei Dank im kompletten Einverständnis mit ihrem Arbeitgeber, der gemeint hat: „Nimm dir alle Zeit der Welt. Wir schaffen das schon, macht dir keinen Kopf.“ Sowas wünscht sich Karina für alle Frauen, weil gegenteilige Erzählungen kennt sie zu Genüge. Frauen, die am Montag darauf schon den ersten Anruf erhalten, wann sie denn wieder in die Firma zu kommen gedenken. So nach dem Prinzip: „Bei allem Respekt, es sei ja bekanntlich schief gelaufen, jetzt wär’s doch gut, wenn du gleich wieder einsteigst.“

Sowas ist den Firmen normalerweise scheißegal. Kraftausdruck hin oder her. Und was dann noch dazu kommt, ist das schlechte Gewissen und der Druck, den man sich selber macht. Die lebende Tochter zu Hause kann ja auch nichts dafür, dass du in einem Loch bist. Und die Leute schauen dich an, gratulieren dir, dass du’s so gut wegsteckst. Und du sagst dir: Einen Scheiß tu ich. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll! Vor kurzem war ich noch stolz drauf. Stolz meinen Bauch jedem und jeder zu zeigen, die Vorfreude in die Welt hinaus zu posaunen. Bald bin ich nochmal Mama und es wird so schön werden! – Ein Scheiß ist passiert.


Die schlechtesten Menschen auf der Welt kriegen so viele Kinder und die sind gesund und werden schlecht behandelt. 

Karina hat das selbe Talent, wie ihre erste Tochter Marie. Sie kann Gefühle in Bildern denken. Wenn Marie eine Emotion beschreibt, dann ist das eine Maschine in ihrem Kopf. Und je nach Zustand, macht diese Maschine was mit ihr. In ähnlicher Manier hat Karina ihre „’schwarze Zeit“, wie sie sie nennt, auf Instagram mit Bildern und Zitaten zum Ausdruck gebracht.

Und was dann geschah, darüber staunen sie und ihr Mann heute noch. Die Vielzahl an Leuten im Umkreis, die Ähnliches erlebt hatten, Anteil nahmen oder Mitgefühl zeigten, war immens. Menschen, bei denen man im Alltag nie daran gedacht hätte. Das klare Fazit: Man ist echt nicht allein. Die Leute gehen nur nicht immer so öffentlich damit um.

Ich habe mich so geschämt dafür, dass mein Körper das nicht schafft, dass er ein gesundes Kind zur Welt bringt.

Die Erzählung lässt keinen Millimeter aus und wir gehen nochmal gemeinsam durch alle Stationen. Vom ersten Screening, wo sie noch glaubte, dass der Folgetermin nur vereinbart wurde, weil man das Geschlecht nicht wirklichen erkennen konnte. Bis hin zum absurden Moment, als der Arzt beim Ultraschall ganz leise wurde. Normalerweise reden die dann immer so schnuckelig und erzählen dir was man sehen kann. Und du siehst eigentlich überhaupt nix und bejahst in deiner eigenen Erregung nur immerfort. Absolut nichts verstehst du davon, wie denn auch? Du kannst nur blind vertrauen.

Und dann geht der Typ zu der Assistentin, die gleichzeitig auch seine Frau ist und flüstert ihr was zu. Und dann gehst du raus und die Frau redet plötzlich mit dir, als wäre dein Kind schon tot. Und dann brichst du in Tränen aus und erfährst, dass dein Kind Zysten an der Stelle der Nieren hat. Zu wenig Fruchtwasser. Es tut uns leid. Hier die Überweisung in die Keppler Universitätsklinik nach Linz. Bitteschön, auf Wiederschaun.

Dort sitzen dann überall Schwangere. Du wirst aufgerufen und es wird nochmal überprüft. Dann sagen sie dir, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Ohne Nieren, kein Fruchtwasser. Das Kind wird’s nicht schaffen. Dann die Ansage: „Entweder Sie warten noch bis es von sich aus stirbt oder Sie nehmen diese Tabletten. Überlegen Sie sich’s, ich komme dann in fünfzehn Minuten2 wieder zu Ihnen.“ – Und dann sitzt du da und musst auf die Minute entscheiden, ob du abtreibst. Und du weißt, wenn du die Tabletten jetzt nimmst, bringst du kein Kind um.

Ich hab das Gefühl gehabt, jemand hält mich hoch und lässt mich baumeln. Und unter Dir ist nichts. Ein Loch ohne Ende.

Sie sieht sich oft an der Kante des großen schwarzen Loches sitzen. Die Beine runter baumelnd, der Blick ins tiefschwarze Nichts. „Und du denkst dir, ich will jetzt einfach aus meinem Leben raus. Ich will das nicht! Aber du musst. – Das ist wie, wenn du einem Kind eine gebratene Leber herlegst und du sagst: Du musst das jetzt essen. Friss oder stirb.“

Das Gespräch nimmt seinen Lauf und es bleibt keines unserer vier Augen trocken. Das kennt Karina anscheinend schon gut, denn sie geht trittsicher weiter, schämt sich für nichts. Kratzt die Kurve jedesmal – nicht selten mit Humor und Zuversicht. Was ihr immer hilft, ist die Tatsache Mutter zweier lebender und gesunder Kinder zu sein. Ihre Liebe zu den beiden ist grenzenlos. Und sie ist sich sicher, dass Henry ihnen die kleine Rosalie geschenkt hat.

Sie erinnert sich an die Hochzeit einer Freundin, als sie erst seit drei Tagen wusste, dass sie mit Rosalie wieder schwanger war. Eine Art uriger Stadel für die Zeremonie. Schöne Stimmung, der Standesbeamte redet und aus dem Nichts, fällt hinter ihm eine kleine Feder runter. Ganz langsam herab geglitten ist sie und auf sanft auf dem Boden gelandet. Sie hatte Tränen in den Augen und wusste, er ist da.

Stein in Hand von Regenbogenkind Rosalie. (c) Karina Hartinger

Und besondere Zeichen gibt es immer wieder, wenn Henry sich „meldet“. Da war zum Beispiel auch die Taufe von Rosalie. Das Datum zu finden, war ziemlich schwierig. Der 1. Oktober ging nicht, der eigene Hochzeitstag – der 14. Oktober – auch nicht. Widerwillig wurde der 15. Oktober beschlossen. Der Tag kommt und Karina liest ihr Wunschkärtchen laut vor, ganz unkatholisch, wie sie meint: „Iß jeden Tag Gummibärchen, spiel im Regen …“ Und natürlich wieder Tränen und alle rundherum haben gewusst, was los ist. Dass es da jetzt auch um Henry geht.

Und dann sitzen wir danach beim Essen auf diesem Hof, ein offenes Tor. Und plötzlich reißt die Wolkendecke auf und die Sonne scheint sowas von stark runter. Und ohne Abmache oder irgendwas, schauen wir uns alle an und wissen, dass er das jetzt ist. Dass er da jetzt runter strahlt. Das haben wir einfach gespürt. Und dann läutet mein Handy und ich bekomm eine Nachricht von einer anderen Freundin und ich glaube es nicht: „15. Oktober, Tag der Sternenkinder“3.


  1. Wenn man einen großen „Bahö“ macht, so lenkt man sehr viel Aufmerksamkeit dadurch auf sich. Dieses Wort kommt eigentlich ursprünglich von dem Tschechischen „bahol“, was so viel wie Krawall bedeutet. (Quelle: de.wiktionary.org) ↩︎
  2. Die Angabe von fünfzehn Minuten ist laut Karina absolut relativ. Es hätten auch dreißig oder eine Stunden sein können. Die Zeitwahrnehmung ist in solchen Momenten absolut surreal. ↩︎
  3. Jährlich am 15. Oktober findet der „Tag der Sternenkinder“ statt, an welchem allen Kindern gedacht wird, welche während der Schwangerschaft oder während der Geburt sterben. Seinen Ursprung hat der Gedenktag in den USA und Kanada, wo er als „Pregnancy and Infant Loss Remembrance Day“ bekannt ist. (Quelle: https://statistik.thueringen.de/presse/2023/pr_221_23.pdf) ↩︎
By remo

Über das Projekt

Das Projekt sammelt Geschichten und Stimmen zum Thema ‘Sternenkinder’ und möchte dies in Form von Audioaufnahmen zu einem Animationsfilm verarbeiten.

Die gesammelten Ergebnisse der Gespräche, sowie Einblicke in das Handwerk des Animationsfilms sollen über diese Webseite einem interessierten Publikum zugänglich sein. Ebenso soll dieses Archiv betroffenen Menschen als Inspiration und therapheutische Anlaufstelle dienen.

Das hier beleuchtete Phänomen ist kein Seltenes, und gerät als gesellschaftliches Tabu oft in eine prekäre Nische, die zu seelischen Schieflagen führen kann. Für den Film und die Sammlung werden Menschen gesucht, die anderen Betroffenen neue Sichtweisen und heilende Perspektiven schenken wollen.