Für mich ungewöhnlich dichter Verkehr an diesem Dienstag Nachmittag. Das Navi lässt unsinnig früh die Autobahn verlassen, verstärkt die Verspätung. Die Übergabe des gebrauchten Kinderbettes hätten wir also doch früher als zwölf Uhr ansetzen sollen. An der nächsten roten Ampel schreie ich um Verzeihung durch die Freisprechanlage. „Alles gut, das geht sich aus. Bis gleich.“ Am Lehrerparkplatz des Gymnasiums finden wir uns. Der Hausmeister bestätigt natürlich, dass er den roten Bus gleich abschleppen lassen wird, wir sollen uns keine Sorgen machen. Eine sympathisch auflockernde Figur zwischen all den Akademikern, meinen wir beide. Wir manövrieren an der Bushaltestelle durch einige Trauben von SchülerInnen. Ende der Mittagspause. Direkt gegenüber des Supermarkts befinden sich die Landeskliniken Salzburg. Kurz: das SALK. Im Innenhof des Gebäudekomplexes liegt eine Grünfläche umrundet von Bäumen. Der starke Wind lässt das Rinnsal eines kleinen Brunnens nervös über die Steinkante plätschern. Auf einer Parkbank vergewissern wir uns, dass es tatsächlich acht Jahre her ist. Auf den Tag genau haben sich Katrin und Martin hier von Lina verabschiedet.
„Es war einfach ein natürlicher Prozess“, erinnert sich Martin. Katrin hat nichts falsch gemacht. Nicht geraucht, nicht getrunken. Alles lief gut. Bis der Körper von selbst zu kommunizieren begann. Eine Blutung schlägt Alarm. Schon auf der Fahrt zum Krankenhaus warnt sie ihn vor, er solle sich keine Hoffnungen mehr machen: „Etwas stimmt nicht, stell dich auf das Schlimmste ein.“ Und Martin will das im ersten Moment relativieren, die Stimmung pushen. Zwischenblutungen gibt’s bei Schwangerschaften immer wieder mal. Man kann sich ja auch täuschen. Und er redet ihr gut zu, will funktionieren und schützen, wo er kann.
Dann kommt der erste Arzt. Ein Ultraschall. Dann wird die nächste Ärztin zu Rate gezogen. Und wieder. Stufe für die Stufe wird die Hierarchie des Apparats durchgespielt. Aber niemand findet den Puls. Es wird analysiert, besprochen und wiederholt. Immer mit demselben Ergebnis. Und es wird auch für Martin immer naheliegender, dass da nichts mehr sein kann. Und spätestens als der Oberarzt seine finale Diagnose ausspricht, bricht alles zusammen.
Nach der Überbringung der Nachricht werden sie sofort in ein privates Zimmer gebracht. Eine natürliche Geburt wird mit Medikamenten eingeleitet. Darüber werden sie sorgfältig informiert. Mit der diensthabenden Schwester sind sie an diesem Nachmittag nicht wirklich warm geworden und im Nachhinein froh, die folgenden Stunden allein verbringen zu dürfen. „Das war für beide voll in Ordnung“ – Über die eigentliche Geburt spricht Martin nicht und erinnert sich an den nächsten Morgen, der Aufheiterung bringt. Eine neue Schwester bemerkt die Festivalbänder an den Handgelenken, verschiebt den Fokus und erhellt die Stimmung. Ganz ohne Mitleid.
Selbige gibt ihnen den Tipp für eine Seelsorgerin. Ein Angebot des Krankenhauses. Sie könne gerne aus Oberösterreich kommen und sie beim Abschied begleiten. Was auch immer das heißen mag. Für die Beiden klingt das gut und annehmbar. In einer Zeit, wo jede Stütze Halt gibt. Wo vieles stillsteht. – Es werden Fotos von Lina gemacht, die heute noch helfen beim Erinnern. Dann am Nachmittag, nach einem kurzen Kennenlernen, schlägt die Seelsorgerin vor: „Ich glaub, für euch wär das Labyrinth was.“
„Für mich war es sehr ergreifend und wichtig. Vor allem ein sehr wichtiger Prozess“, meint Martin. Er betont die Windungen der Musters. Ein mit Steinen gepflasterter Weg, der in engen Maschen immer wieder von Außen nach Innen führt, von dort immer wieder zurück in die Peripherie. Gleich mehrerer ineinander verwobener Serpentinen führt der Pfad zu einem Mittelpunkt in Form einer Blumenblüte. Lina auf ein Kissen gebettet, auf Martins Arm. Langsamen Schrittes nimmt er sich gute fünfzehn Minuten Zeit für sich und den Weg. Dort angekommen, setzen sich beide Elternteile mit ihrem Sternenkind auf auf die Blüte und sprechen mit ihr.
Die Seelsorgerin begleitet und moderiert die Zeremonie in taktvollem Maße. Weist darauf hin, dass sich in diesem Garten auch eine zarte Staude namens Tränendes Herz befindet. Eine beliebte asiatische Zierpflanze mit symbolträchtiger Formensprache. Pendeln doch die rot-violetten Köpfe in mehrfacher Linie von den jeweiligen Halmen und lassen an den Mündungen jeder Blüte eine tränenförmige, weiße Zunge zum Vorschein treten. Wendet man die Blüte nach oben, erscheint das Männchen in der Badewanne. Eine zarte Figur in einem behüteten Becken. Im Englischen: Lady in a bath.
Tränendes Herz
Close-up of bleeding-heart blossom, upside-down to make the „lady in a bath“ visible. Picture taken in private garden. (c) Holger Casselmann. Quelle: Wikipedia.
Katrin braucht nicht lange, um für sich herauszufinden, wie sie mit dem Durchlebten umgehen möchte. Dem Ritual folgen unzählige Gespräche. Man will mit wichtigen Menschen aktiv teilen. Sowohl mit Freunden als auch der Familie. Auch ich erinnere mich noch an die folgenden Tage. Den Ernst und den Tiefgang. Die ambivalenten Momente zwischen Familienbesuch und endlosen Gesprächen. Das Wenden und Drehen im Ringen nach einem Verständnis, was da eigentlich passiert ist. Das gelegentliche Durchatmen bei lockeren Alltagsthemen. Eine intensive Zeit, die zusammengeschweißt hat. Man sagt mir heute, dass es heilsam war, dass jemand anwesend war. Dass es gut getan hat, als Paar einen ausgleichenden Pol im Raum zu haben.
Auf die Frage nach der ländlichen Prägung im Umgang mit Trauer überrascht die Anekdote aus Richtung Berlin. Dass bewusstes Verdrängen ein Vorwärtskommen ermöglicht, sieht das Paar nicht so. Trotz eines gutgemeinten Ratschlages. Es enttäuscht eher, dass ein knappes Abhandeln im Schweigen darüber mündet. Man hätte sich gewünscht, dass jemand zuhört. Keine gutgemeinten Relativierungen, keine Tätscheleien. Vor allem in diesen erschütternden Tagen danach. Die klugen Ratschläge lassen frösteln. Heute zeigt man sich versöhnlich, obwohl der Beziehung eine Bruchstelle geblieben ist. Heutige Andeutungen zu Lina, erzeugen immer noch einen hohlen Beigeschmack.
Wir versuchen Gründe dafür zu finden. Martin sieht eine moderne Welt, in der alles glatt laufen muss. Wo solchen Fehlern im System kein Platz eingeräumt wird. Wo Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen wird. Zum Wohle der Unschuld, zum Wohle der Oberfläche. Dabei ist doch ein gewisser Funke von Schuld, durchaus legitim. Im Sinne einer Anerkennung des Scheiterns, wenn auch nicht mit direkter Verantwortung. Eine ebenbürtige Anerkennung der wirkenden Faktoren, derer sich ein emotionales Gleichgewicht nährt? Wie weit ist es realitätsfremd, sich als Teil eines größeren Kosmos in die Hierarchie der Natur einzuordnen, dies mit all seinen Pros und Cons öffentlich zu tragen? Ist das Clichée von Funktion und Tüchtigkeit wirklich so dünnhäutig?
Eine Phase der Erdung prägt die Trauerzeit. Viele Spaziergänge lassen altbekannte Perspektiven aufblühen. Dem Firmament in Demut und Akzeptanz entgegentretend, fühlt sich Martin oft als winzig kleines Staubkörnchen im Großen und Ganzen. Diese ersten Frühlingswochen waren sehr anders und schwierig. Er ist viel draußen und nimmt das Erwachen der Natur ganz anders wahr. Auf einer anderen Ebene als sonst. „Die Zeit verging viel langsamer“, sinniert er.
Heute manifestiert sich Lina nach wie vor im Gespräch und in Gedanken. Nicht an speziellen Orten oder dafür vorgesehen Denkmälern, obgleich diese auch in Form von Halsketten und getrockneten Vergissmeinnicht existieren. Sind es doch vielmehr die Haltung im Umgang mit der Vergänglichkeit und der Bezug zur Lebendigkeit, die dieser Familie eine Unerschütterlichkeit geben. Sind sie doch mittlerweile gewachsen und erwarten heute einen dritten Sohn.
Und ich bin mir sicher, dass Martin auch diesem eine alternative Version von Männlichkeit vorleben wird. Nämlich eine, die sich keiner Emotion zu schade ist. Sie ungefiltert rauslassen darf, ohne sich auch im Geringsten darüber Gedanken zu machen, was andere darüber denken. Eine Weltanschauung, die sowohl dem Lachen als auch dem Weinen und der Wut eine Kraft der Heilung und Selbstverständlichkeit zuspricht. Dies seinen Söhnen zu vermitteln, ist ihm ein Anliegen.