IN:UTERO – Screening & Diskussion

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Die Leinwand wurde erfolgreich montiert und der Herbst zeigt sich mit einem lauen und sonnigen Nachmittag in der Grazer Altstadt. Ich stehe an der Ecke der Enge Gasse und fotografiere den Eingang, die Fassade und die Situation mit den flanierenden Menschen, die immer wieder stehen bleiben, neugierig am Fenster kleben bleiben oder im Vorbeigehen kommentieren: “Schau, da is schon wieder was Neues drin.” Erst jetzt realisiere ich das eigentliche Momentum dieser Aktion, ihren subversiven Kniff, den griffigen Überraschungseffekt. Denn sogar Leute, die schon längst die Kleiderständer durchstöbern, bemerken oft erst sehr spät, dass sie sich mitten in einer Awareness Aktion zum Thema Stille Geburt befinden.

Während den ersten Fotos auf der Straße spüre ich eine Person neben mir, die auch Bilder macht. Wir bemerken im Gespräch die feine Aufmache, die gute Idee und dass wir beide Gäste der heutigen Veranstaltung sind. Aus Augsburg ist Vroni angereist: Sie ist die Mutter von Lenz-Wolke, einem meiner Sterne im Film Lina. Ich erkenne sie nicht, weil ich dazu mit ihrem damaligen Partner David das Interview führen durfte. Dieser wiederum sitzt schon im ersten Stock und näht an einem T-Shirt. Ich tippe ihm auf die Schulter und wir lachen. Wir hatten anscheinend beide die selbe Idee, als wir nach dem passenden Outfit für den heutigen Abend gesucht haben. Wir wählten absichtlich ein Shirt mit Loch in der Schulter.

Es werden Wein und Brötchen serviert. Das Team rund um Lena, Alexander, Krissi und Anna begegnet Gästen und Laufkundschaft mit offenen Armen und spielt taktvoll ihre Rolle als Shop-Betreiberinnen. Es füllt sich allmählich. Um 19 Uhr beginnt das Screening von Lina im ersten Stock. Gut zwanzig Leute, die bald mit Taschentüchern und Tränen im Raum sitzen. Auch mich drückt’s wieder gewaltig und ich übernehme die ersten Worte nach dem Film. Auf Wunsch von Alexander, der sich noch kurz erholen muss, bevor er die Moderation antreten kann. Nach kurzem Gestammel und technischer Panne mit dem Stream sitzen wir mit David und Kathrin in der Runde vor dem Publikum und beginnen die Diskussion.

Die fünfundvierzig Minuten vergehen wahnsinnig schnell. Wir schneiden viele Themen an und können uns oft gut ergänzen, David als Sternenpapa und Kathrin als dreifache Sternenmutter und Leiterin einer ehrenamtlichen Selbsthilfegruppe. Und ja, es gibt gutes Angebot in Graz und es wird auch genutzt. Aber noch lange nicht von allen, die es brauchen könnten. Auch die Frage nach der systemischen Unzulänglichkeit, der fehlenden Trittsicherheit im Umgang mit Patient:innen lässt Hoffnung aufschimmern, als Alexander erzählt, dass er in einem Präventionsprogramm als Schauspieler mitwirkt, um medizinisches Personal zu schulen. Es werden Erstgespräche simuliert und geprobt. Im Publikum entstehen einige Fragen, Gedanken oder eigene Erfahrungen poppen auf. Wie ich später erfahre, hat eine Teilnehmerin heute zum ersten Mal über ihre traumatische Erfahrung im Krankenhaus öffentlich erzählt. Etwas scheint aufgebrochen zu sein oder Raum gefunden zu haben. Heute, über drei Jahre nach dem Vorfall.

Der Abend entwickelt sich zu vielen herzlichen Begegnungen. Es wird gelacht und gesungen. Die Performance-Gruppe Fichtenharz harmoniert feinfühlig mit ihrem Acoustic Set und trägt die Stimmung auf ein ironisch-melancholisches Niveau. Eine sehr heilsame Zutat an diesem emotionalen Abend. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen und spüren schon den nächsten Rückenwind, den die Arbeit an dieser Thematik so oft mit sich bringt. Denn das Format des Pop Up Stores soll im nächsten Jahr wiederholt werden. Vorausgesetzt die Förderlage bleibt stabil und die richtigen Menschen erkennen das Potential derartiger Kulturarbeit.

In:Utero - Vintage Pop Up Store: https://in-utero.at/
By remo

Remo RAUSCHER *84

Persönlich habe ich die Erfahrung eines Sternenkindes nicht erleben müssen, war aber bei Freunden hautnah dabei und durfte erfahren, dass es eine große Bereicherung für den Verarbeitungsprozess sein kann, wenn man als Paar nicht alleine damit ist. Daraus resultierte die Idee für das Projekt LINA, um neue Zugänge in Form von Interviews und einem gezeichneten Film zu erarbeiten.

Filmemacher aus Linz an der blauen Donau. Freude an der Paarung experimenteller Ansätze mit gesellschaftlicher Anwendung. Tätig in den Bereichen Bühne, Animationsfilm und kollaborativem Filmemachen für Jugend und etwas älter.
www.remorauscher.at