Über abermals unbekannte Ecken kommen wir in Kontakt und ich sehe die Webseite von Julia. Sternendoula, Mentaltrainerin und Sternenmama. Die Texte einfühlsam und pointiert, ein professionelles Angebot mit Takt und Charisma. Auch der Austausch per Mail wirkt von Anfang an leichtfüßig, als würde man sich schon kennen. Mit dieser Vorfreude plane ich einen kleinen Marathon an Interviews, der mich von Graz nach Salzburg führt, rundum den Termin in Spielberg. Am Anfang der Straße steht ein Einfamilienhaus mit Zaun, wo sie mir auch schon zuwinkt. Man spürt die trittsichere Offenherzigkeit dem Thema gegenüber, nicht zum ersten Mal wird sie dazu befragt. Im kühlen Esszimmer erfahre ich, dass wir in einer liebevoll renovierten Schmiede sitzen. Und während mir ihr Mann Manuel einen perfekten Cappuccino serviert und sich kurzerhand auch noch ein Mikro anstecken lässt, wird das Gespräch zu einem besonderen Geschenk.
Es stellte sich eigentlich immer nur die Frage nach dem Wann, denn das Ob war für das junge Paar schon seit jeher einfach nur logisch. Sie legen eine Bilderbuchschwangerschaft hin und beschließen währenddessen zu heiraten. Sie genießen die Zeit in vollen Zügen, freuen sich auf alles was kommt. Jede Untersuchung verläuft perfekt, alles rundum pumperlgsund1. In der zweiunddreißigsten Woche wird auch noch das Kinderzimmer fertig. Während er schon auf dem Weg zu Arbeit ist, beschließt sie, liegen zu bleiben, um zu rasten. Dann kommt aus dem Nichts ein Blutsturz, als würde man einen Wasserhahn aufdrehen.
Achtundzwanzig Stunden später wacht Julia auf der Intensivstation auf. Komplett verkabelt. Eine Schwester hält ihre Hand und sie weiß sofort, worum es geht. Die Ärzte erklären, dass Jakob nicht überlebt hat und auch Julia noch nicht über den Berg ist. Eine vorzeitige Lösung der Plazenta habe zur Unterversorgung des Kindes geführt. Eine Uterusatonie2 zur Blutung und einem Organversagen. Die Folgen seien noch nicht genau abzuschätzen. „Das ist der Anfang unserer Geschichte.“, beendet Julia den knappen Einstieg.
Manuel erinnert sich an die Fahrt mit dem Rettungsauto, daran, dass er im Fahrstuhl noch einen blöden Witz gemacht hat. Als ihm nach langem Warten die Lage erklärt wird, kann er es nicht glauben, fühlt sich wie in einem Tunnel, wo man eigentlich gar nichts mehr fühlt, meint er. Die Hebamme bringt ihm Jakob und er hoppert3 ihn noch für eine Weile. Danach beginnt das Bangen um Julia. Er verbringt viel Zeit mit seinem Vater, organisiert die nötigen Schritte. Den Rest der Zeit ist er im Krankenhaus, verbringt jede freie Minute an ihrer Seite und nicht selten schläft er neben ihr am Stuhl ein.
„Dreiundzwanzig Jahre alt und von Im-Achten-Monat-Schwanger zu Du-Kannst-Nie-Mehr-Ein-Kind-Kriegen, das ist schon ein ziemlich heftiger Sprung.“, erinnert sich Julia. Und die Frage stand groß im Raum, weil niemand wusste, ob die Gebärmutter am Ende entfernt werden muss oder nicht. Und sie würde es voll und ganz verstehen, wenn Manuel unter diesen Umständen die Beziehung beenden wollen würde. Jetzt wo die Zukunft so anders sein könnte. Sie wäre ihm nicht böse gewesen, wenn er gegangen wäre. Aber für Manuel kam das überhaupt nicht in Frage. „An guten wie an schlechten Tagen. Auf Herz und Nieren erprobt.“, schmunzelt Julia heute.
Nach dem Aufwachen ereignet sich eine der schönsten Szenen, in der Julia’s Vater das Paar je gesehen hat. Sie komplett verkabelt, er bei ihr im Bett, in der Mitte Jakob. Es wird verglichen: von wem er die Nase, vom wem die Augen hat. Ein herzzerreißendes Bild. Und so laden sie auch noch die restlichen wichtigsten Menschen ein, um den Neuankömmling in aller Ehre zu begrüßen. So kurz er auch da sein mag, soll er ein vollkommener Teil der Familie sein. Julia erinnert sich heute nur noch aus Erzählungen an diese Momente, wo sie doch mit Medikamenten vollgepumpt war. Was sie jedoch immer noch klar spüren kann, ist „ein unbeschreibliches Gefühl einer endlosen Liebe zu einem Menschen, den du garnicht kennst. Und doch gibt’s niemanden, den du besser kennst. Also irgendwie alles und nichts ein einem.“ Und Manuel ergänzt: „Es ist eine gewisse Energie, das Gleiche wie mit Strom. Man sieht ihn nicht, aber trotzdem brennt die Birn.“
Relativ schnell beschließt Julia, die Sache mit Jakob vorerst auf die Seite zu drängen. Wenn sie jetzt das Körperliche und das Seelische gleichzeitig betrachtet, würde ihr Schädel explodieren. „Weil es kann ja nicht sein, dass ich das bin, die da liegt.“ Die Vorstellung allein wirkt schon wie aus einem Horrorfilm. Es schaltet sich ein Schutzmechanismus ein, der es Julia ermöglich, sich von Außen zu betrachten. Quasi in der dritten Person die Heilung mitzuverfolgen, um nicht an der surrealen Situation zu zerbrechen. Ein psychologisch wertvoller Kniff in einer Situation, deren Maß an Überforderung schier unfassbar scheint.
Allmählich verbessert sich der Zustand. Auch wenn Julia bei Null starten muss, alles wieder neu lernen. Die einfachsten Bewegungsabläufe werden zum Kraftakt: Essen, Gehen. Stehen. Fünf Minuten auf den eigenen zwei Beinen stellen eine gigantische Herausforderung dar. Manuel ist immer dabei und feuert sie an. Du schaffst das! Du bist super! Auf der Intensivstation spielen sich hollywoodreife Meilensteine ab, die das Paar noch mehr zusammenschweißen, als es das ohnehin schon war. „Dieses düstere Umfeld, wo grad ein Kind gestorben ist und du nicht weißt, ob du’s überlebst. Und doch sind das Erinnerungen, an die ich heute noch gern zurückdenke, weil es einfach so ‚wir‘ war.“, sagt Julia.
Mir muss der Mund die Hälfte der Erzählung schon längst offen gestanden haben, so erstaunt und berührt bin ich über die Geschichte der zwei. Mich interessiert, wie man den Neustart angeht, wieder zurückfindet in das eigene Ich. Julia weiß, dass es so etwas nicht gibt. Im Moment, wo dein Kind stirbt, veränderst du dich. Auch vom Charakter her. So kann es keinen Weg zurück geben. Man kann nur versuchen, sich selbst wieder neu kennen zu lernen. Denn nach allen gröberen Lebensumbrüchen ist man am Ende jemand anderer. Alles kann sich ändern. Der Habitus, die Denkweise, die Gewohnheiten. Es ist sogar vergleichbar mit einer Lebendgeburt, wo doch dein Körper bei einer Früh- oder Fehlgeburt Ähnliches durchgemacht hast. Nur weil für andere im Nachhinein kein Resultat nicht sichtbar ist, heißt es nicht, dass es deswegen weniger gewichtig wäre.
Und ich erfahre, dass Julia das nicht ohne Grund betont. „Es hat immer wieder Menschen gegeben, die nicht nur blöde Bemerkungen von sich gegeben haben, sondern teilweise wirklich gemein waren, würd ich sagen. Das muss ich mir eigentlich nicht antun.“ Nach ihrer Rückkehr hatte sie eine längere Phase, in der sie sich nicht mehr traute ein Auto zu lenken. Ihr Zustand war zu labil und ihre Konzentrationsfähigkeit litt dermaßen, dass es fahrlässig gewesen wäre. Leider gab es Menschen, die das nicht einsehen wollten, Julia ein überhöhtes und gespieltes Buhlen nach Aufmerksamkeit unterstellten. Menschen, die „Extra-Wirschtl4“ gesehen haben wollen und dadurch den Tod Jakobs für abgetan deklarierten. An solchen Punkten beginnt man sein Umfeld neu zu ordnen, obwohl man weiß, dass es den kulturell antrainierten Scheuklappen im Umgang mit dem Tod zu verschulden ist, dass derartige Reaktionen zu Tage treten.
Und wie so viele merkwürdige Verhaltensweisen hat auch diese ihre Ursprung in einer elementaren Angst, nämlich der vor dem eigenen Tod. „Ich glaube, dass jeder von uns ein bisserl das drinnen hat: Wir sind doch unsterblich … Wir selbst sterben ja sowieso nie, wir verletzen uns nie. Und grad der Tod von Kindern führt uns ganz schnell vor Augen, dass es jeden treffen kann. Ich glaub, dass das bei sehr vielen Menschen eine Angst auslöst.“, schildert Julia treffend und betont dabei auch den gravierenden Kontrollverlust, wenn der Tod überraschend früh eintritt und das gewohnte Schema verlässt. Mit diesem Gedankengang ließen sich auch andere verstörende Verhaltensweisen begründen und es scheint, als wäre die Schwelle zwischen Leben und Tod eine der größten Hürden der Menschheit. Quelle vielen Übels. Des Mysteriums und der damit verbundenen Angst wegen.
Wir sprechen über die Verwandlung, die man durchmacht. Den Perspektivenwechsel und Manuel bemerkt, dass es natürlich eine Blase ist, in der man sich befindet. Aber diese wird jeden Tag etwas größer und dehnt sich aus. Schritt für Schritt atmet man wieder genügend Luft, um das äußere Leben wieder mit ernähren zu können. Er hat viel Zeit mit seinem Cousin verbracht, Computer gespielt. Sich bewusst aus der Spur bugsiert, Ablenkung gesucht, um dem Lachen Raum zu geben. „Ich glaub, dass das immer in so Wellenlinien zurückgeht, es steigert sich immer. Trotz der Einbrüche, wird’s wieder schön.“, betont er. Man sieht sich Bilder an, lacht mal wieder, denkt da und dort mal wieder anders und so wird die Trauer porös und brüchig, lässt Dinge in neuem Licht erscheinen. Genau so wie der Sonnenaufgang, den man früher Tag für Tag ignoriert hat, sieht man die alltäglichen Momente plötzlich durch eine Lupe und lernt sie völlig neu wahrzunehmen. Man spürt wieder jeden einzelnen Strahl und die Wärme, die durch die Poren dringt. — Manuel wechselt bald den Job und ordnet seine Prioritäten. Will mehr Zeit für die Familie, weil: „Die Zeit ist weg, wenn sie weg ist.“ Für seine Verwandlung ist er heute gewissermaßen auch dankbar.
Genauso hat Julia ihr Weltbild neu geordnet und sich beruflich von Grund auf umorientiert. Die Dankbarkeit, dass sie so großen Rückhalt seitens der Familie und des Umfelds erfahren hat, befördert in ihr ein Bewusstsein, dass so etwas nicht flächendeckend selbstverständlich sein kann. Ganz bestimmt gibt es Frauen, denen es ähnlich ergeht und die niemanden um sich haben. Eine absolute Horrorvorstellung in einer solchen Situation allein zu sein. – Doch mit ihnen meint es das Schicksal gut. Denn es folgt das Regenbogenkind Raphael. Was in vielen Fällen als hilfreichster Teil eines Heilungsprozesses angesehen wird, führt Julia und Manuel aber erst recht vor Augen, was sie versäumt haben. Anhand Raphaels Beispiel erfahren sie, was ihnen mit Jakob verwehrt geblieben ist, was ihnen genommen wurde. Lernen die Trauer von einer neuen und ambivalenten Seite kennen.
Es kostet viel Überwindung, mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Trotzdem gründet Julia eine Blog und schreibt sich so Einiges von der Seele. Innerhalb kürzester Zeit erreichen sie unzählige positive Rückmeldungen. Sie beschließt ihre neuen Perspektiven zum Beruf zu machen und macht einen Ausbildung zur Mentaltrainerin und Doula. Mittlerweile begleitet sie selbst Frauen vor und während einer kleinen oder stillen Geburt. Man spürt im Gespräch, dass sie Menschen Halt geben kann, ob der Klarheit und dem Fokus zur Neutralität. Denn jede Geschichte ist individuell, jeder Weg neu. Man muss ihn nur gehen, selbst wenn man zu Beginn erstmal das Stehen wieder üben muss. Und dabei ist jede unerschrockene Hand hilfreich.
Es geht weniger um das große Ziel, dass es einem gut geht. Vielmehr begibt man sich auf die Suche nach dem, was einem hilft. Das kann kurzum ein Lachen sein, auf das man täglich hinarbeitet. Kleine und erreichbare Schritte zählen da oft mehr, als das große Ziel am Horizont. Und es stellt sich die Frage, ob es uns immer gut gehen muss? Denn es gibt nach wie vor Tage, wo sich Julia schlecht fühlt und das ist vollkommen legitim. Man nimmt sich Zeit, klinkt sich aus und erzeugt einen Raum, wo auch diese Emotion atmen darf. Andererseits: „Du kannst einen supertollen Tag gehabt haben und am Abend kommt dann eine Erinnerung und du hast das Gefühl, der ganze Tag war so.“
Beide betonen, dass bei ihnen die Trauer sehr unterschiedlich ablief und es viele Gespräche brauchte und man dem Gegenüber immer seinen speziellen Raum zugestehen musste. Denn Mann und Frau können hier sehr unterschiedlich damit umgehen. Zumindest bei Manuel und Julia, wo das Kommunikationsbedürfnis wie Nord- und Südpol einen Planeten umschließen, der heute Harmonie ausstrahlt. Und dabei ist es individuelle Typensache und weniger Klischee. Denn Maskulinität hat hier weniger mit kühler Härte, als mit Mut zur Emotion zu tun. Manuel hat keine Probleme zu weinen, genauso wie es keine Zurückhaltung braucht, um zu lachen.
Und heute Lachen sie beide wieder, auch wenn es für Julia noch eine bestimmte Zeit einer seltsamen Angst gab. Sie machte sich damals viele Gedanken, wie sie auf Raphael reagieren würde, wenn er endlich da wäre. Vielleicht würde sie ihn nicht nicht anfassen wollen, eventuell würde er Jakob total ähnlich schauen. Doch nichts dergleichen passiert. Sie sehen sich absolut nicht ähnlich. Am dritten Tag seines offiziellen Lebens steht sie an seinem Bett und muss sich wegdrehen, so überglücklich ist sie, dass das kleine Ding endlich da ist. Daraufhin schreibt sie einer Freundin eine ewig lange Nachricht. Vieles muss raus, viele Gefühle, die bis dato nicht greifbar waren. Denn auch der Moment muss passen, weil der Alltag nicht immer jede Emotion gebührend zulässt. Und es ist bemerkenswert, dass sich diese bedingungslose Liebe seltsam aufteilt. Denn einmal hat man ein ganzes Leben Zeit dafür und bei einem Sternenkind womöglich nur ein paar Minuten. – Aber selbst das traue ich mir an dieser Stelle zu relativieren, denn:
Jakob ist heute anwesend und gehört zur Familie, wie jedes andere Mitglied jeglicher Generation. Egal ob bei der kirchlichen Hochzeit oder bei der Taufe von Raphael. Zur Vergegenwärtigung dieser Anwesenheit hilft oft eine Kerze, die Raphael auch oft einfordert: „Dama a Liachtal anzünden, dass ma a seng, dass a do is bei uns.“ Auch ist es für ihn das normalste auf der Welt, wenn jemand von Geschwistern spricht, seinen Bruder am Friedhof zu erwähnen. Das geht soweit, dass er bei Spaziergängen jeden zufällig gekreuzten Ast dem Kirchenkreuz zuordnet und darauf hinweist, dass Jakob in allen ihren Herzen wohnt. Dieser natürliche Zugang überrascht die Eltern immer wieder aufs Neue und hinterlässt eine Mischung aus Stolz und Dankbarkeit.
- Pumperlgsund – Bayern, Österreich: vollkommen gesund, frei von jeglicher Krankheit. (Quelle: Wiktionary) ↩︎
- Uterusatonie – Unfähigkeit der Gebärmuttermuskulatur sich nach der Geburt wieder vollständig zusammenzuziehen. Aus dieser Kontraktionsschwäche resultiert eine starke bis lebensbedrohliche Blutung, die ein unverzügliches Eingreifen erfordert. Die Uterusatonie zählt zu den häufigsten Ursachen mütterlicher Mortalität. (Quelle: Wikipedia) ↩︎
- Hoppern – Umgangssprachlich für tragen oder auf und nieder bewegen. (Quelle: dwds.de) ↩︎
- Extra-Wirschl – Österreichischer, bayrischer Dialekt für die umgangssprachliche „Extra-Wurst“ im übertragenen Sinn. Wenn jemand unzulässige oder anmaßende Sonderwünsche anmeldet oder eine Bevorzugung beansprucht, wirft man ihm vor, er wolle sich wohl „eine Extrawurst braten“ lassen. Wird sein Ansinnen abgelehnt, heißt es, es würden eben „keine Extrawürste gebraten“ beziehungsweise niemand „bekäme/kriege eine Extrawurst“ (Quelle: duden.de) ↩︎