Doreen Kaltenecker von der Rezensions-Plattform Testkammer für (Kurz-)Filme hat Lina am DOK Leipzig gesehen und kontaktiert mich via Email. Sie bittet um ein Interview und die Möglichkeit eine Rezension zu schreiben. Und klar, freut man sich, hier teilzunehmen. Sie stellt neun sehr gut gewählte Fragen, die ich versuche, sehr persönlich und klar zu beantworten. Eine Kopie des Interviews erlaube ich mir, hier erneut anzuführen. Vielen Dank! – Die Rezension befindet sich auf der Plattform unter:
www.testkammer.com/2025/12/02/lina-2025/
Rezension zu Lina von Doreen Kaltenecker für Testkammer.com

Interview: Im Gespräch mit dem österreichischen Filmemacher Remo Rauscher konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „Lina“ erfahren, der auf dem 68. DOK Leipzig 2025 seine Deutsche Premiere feierte, wie er zu der Thematik Sternenkinder kam, wie er seine Gesprächspartner:innen fand und wie man für so ein Thema die richtigen, animierten Visualisierungen findet.
Wie bist Du zu dem Thema Sternenkinder gekommen?
Durch ein befreundetes Paar. Das war vor über neun Jahren mittlerweile. Ich hatte damals eine längere Reise hinter mir, hatte davor meine Wohnung aufgegeben und war dadurch immer wieder für längere Passagen Gast auf deren Couch. Somit war ich sehr nahe und unmittelbar dabei, als die Nachricht kam, dass sie ihr Kind verloren hatten. Was dazu führte, dass ich für einen Großteil der Trauerphase als Gesprächspartner fungierte. Das tat einerseits dem trauernden Paar gut und andererseits hatten beide noch eine dritte Person im Raum, auf die sie jederzeit ausweichen konnten, sollte der Partner gerade Mal nicht da oder in einer unzugänglichen Stimmung sein. Und ich erinnere mich noch genau, wie ich dann selbst nachts wach lag und über die Situation grübelte. Damals entstand die Idee, sich dem Thema filmisch anzunehmen.
Es ist nicht nur ein Film, sondern auch ein ganzes Projekt zu dem Thema. Auf deiner Seite dafür finden sich alle ausführlichen Interviews, weiterführende Gespräche und Du hast einen persönlichen Blog angelegt. Warum hast Du Dich dazu entschieden, das größer aufzuziehen?

Es gibt da so einen Film, der mir mal unterkam. Der heißt „The Hope Gap“ [2019, Regie: William Nicholson]. Er handelt von einem pensionierten Paar und deren Trennung nach zirka sechzig Jahren Ehe. Die Protagonistin macht so einiges durch und findet am Ende (Achtung Spoiler) einen bemerkenswerten Ansatz, mit ihrer Misere umzugehen. Sie gründet eine Website und sammelt Geschichten über ähnliche Schicksale. Und plötzlich hilft die Sammlung nicht nur ihr, sondern auch vielen anderen Menschen in ähnlichen Lebenslagen. Eine moderne Selbsthilfegruppe quasi. – Als dann die Idee mit den realen Interviews für Lina kam, lag es für mich auf der Hand, die gesammelten Interviews öffentlich zugänglich zu machen. Daher auch der Titel ‚Projekt Lina‘. Der Film ist eines der Ergebnisse, aber aus meiner Sicht fast zweitrangig, wenn man den Wert der vollen Interviews betrachtet. Zudem hat die Arbeit mit den Gesprächsparter:innen immer wieder motiviert und beflügelt, denn die Rückmeldungen waren immer dankend und wertschätzend. Die Personen durften zum ersten Mal erleben, dass sich ein Außenstehender für ihre Geschichte interessiert und staunten über die große Wichtigkeit, die dabei Tage zelebriert. Viele Betroffene glauben, dass sie einer Minderheit angehören oder gar selbst Schuld daran tragen. Und diese Fehleinschätzungen sind hierzulande kulturell geschürt.
Wie und wie viele Gesprächspartner:innen hast Du gefunden?

Im Zuge des Projekts sind über zwanzig Interviews entstanden. Der Großteil davon mit betroffenen Paaren, Müttern oder auch Vätern. Letzteres war ein großer Wunsch, denn die männliche Seite wird aus meiner Sicht noch viel weniger beleuchtet, als die Situation ohnehin schon tabuisiert wird. Angefangen hat es mit einem simplen Aufruf über eine Email an dreißig Menschen in meinem Umkreis. Die Webseite war damals mit einem Video bestückt, wo ich mich selbst offen und ehrlich präsentierte und die Idee erklärte. Ganz ungekünstelt, mit allen Ängsten und Unsicherheiten dem Projekt gegenüber. Denn wie sollten wildfremde Leute sonst gewillt sein, über ein derart intimes Thema mit mir zu sprechen? Und ich denke, das hat geholfen, die Türen zu öffnen. Zwei Wochen nach dem E Mail hatte ich schon eine Einladung nach Tirol, was über drei Stunden von meiner Heimatstadt Linz entfernt liegt. Dann kam der Ball fast von selbst ins Rollen. Ich habe die Leute immer gefragt, ob sie denn wüssten, über welche Ecke wir vermittelt wurden. Und wir konnten die Kette selten vollständig rekonstruieren. Es muss eine behutsame Stille Post gewesen sein. Mit Sicherheit auch der heiklen Thematik geschuldet. Aber absurderweise kennt ausnahmslos jeder Mensch eine Geschichte dazu. Nur hört man die nur, wenn man das Thema aktiv anspricht.
Wie leicht war der Zugang – wie offen konnten sie über ihren Verlust reden?

Sehr offen. Es gab Interviews, wo ich außer der ersten Frage „Wie kam es dazu?“ für eine Stunde nur noch kopfnickend gegenüber saß. Die Worte mussten alle raus, ein ungefilterter Strom sprudelte mir entgegen. Alles einem aktiven Bedürfnis entspringend, die eigene Geschichte laut erzählen zu dürfen. Je öfter das raus darf, desto heilsamer ist es in der Regel für Betroffene. Immer mit dem Credo des wertfreien Zuhörens. Ohne Ratschläge und ohne Vergleiche aufzuziehen. Keine der Geschichten gleicht der anderen, jede hat ihre Tücken und Kritikpunkte an die Gesellschaft, das Gesundheitssystem oder unsere Kultur des Schweigens. Und je mehr man davon hört, desto mehr Parallelen entdeckt man. Und man fragt sich natürlich, woher kommt diese Unfähigkeit? Wie fing das an und wo führt es hin?
Kannst Du mir mehr über die Animationen erzählen? Zum einen, in welchem Verfahren Du sie gemacht hast und was Dir bei den Bildern am Herzen lag?

Nach den reinen Audioaufnahmen der Interviews fing ich an, die Themen zu clustern, einen repräsentablen Querschnitt zu erzeugen, der den Geschichten Rechnung trägt, ohne zu tief ins Detail zu gehen. Der Film sollte einen Zugang zum Thema geben und spüren lassen, dass es viele dieser Geschichten gibt und damit Mut machen. Das dabei entstandene ‚Hörbuch‘ von zirka dreißig Minuten war dann schon ein heftiges Stück. Jede Person, der ich es vorspielte, war zutiefst gerührt und ergriffen. Spätestens hier war mir klar, dass der Film auf der Bildebene sehr behutsam und minimalistisch bleiben sollte. Die Bilder nehmen den Zuseher an der Hand, betten die Worte in eine assoziative Umgebung, streuen Licht auf die Charaktere oder Alltagssituationen. In manchen Passagen habe ich mich auch getraut, eigene Kommentare zu verpacken, im steten Ansatz subtil und hintergründig zu bleiben. Wenn zum Beispiel das Eichenblatt vom Wind verweht wird und der Gärtner mit dem Laubbläser den Haufen in alle Richtungen verschiebt, dann spiegelt das für mich die „Augenauswischerei“ dar, wie man auf Österreichisch so schön sagt. Anstatt ihnen ins Auge zu blicken, verschieben wir Probleme gern von A nach B und wischen sie dabei mit lächelnder Miene in Nachbars Garten, um sie dort guten Gewissens vergessen zu können. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ein „Mir geht’s heute schlecht.“ kann im Normalfall keiner ertragen bzw. haben wir keine kulturellen Blaupausen dafür entwickelt, die hier anwendbar wären. Wir wurden zugunsten einer Etikette der Unfehlbarkeit zur Lüge erzogen und vergessen dabei, dass wir uns dabei oft selbst nichts Gutes tun. – Gezeichnet und animiert wurde mit einem Grafiktablett und der Open-Source-Software Blender.
Haben die Interviewten den Film bereits gesehen?

Die meisten. Viele davon schon bei der Premiere und einige waren auch mit ihren lebenden Kindern im Kino. Das hat mich am meisten gefreut. Ein Einjähriger krabbelte am Rand des Saales rum und man hörte immer wieder lautes Glucksen und Quietschen während des Films. Die Kinder haben der schweren Stimmung im Raum eine ambivalente Versöhnlichkeit verliehen. Aber es kam auch vor, dass Leute den Saal verließen. Vor allem, wenn der Film mit mehreren Kurzfilmen lief. Der Film braucht Luft und Zeit zum Verdauen und Verarbeiten. Die persönlichen Gespräche danach sind immer sehr wichtig, wie ich lernen durfte.
Wie geht es mit dem Film weiter?

Ich wünsche mir noch viele Screenings und freue mich über jegliches Interesse. Nächstes Jahr entsteht unter Umständen eine Ausstellung mit einer Fotografin, die Portraits und Geschichten von Betroffenen gesammelt hat. Zusammen mit einem Linzer Verein für Schwangerschaftsberatung soll im Universitätsklinikum ausgestellt und präsentiert werden. Der Ansatz soll gezielt den medizinischen Kreis ansprechen und dort für Aufmerksamkeit plädieren. Habe derzeit das Gefühl, dass hier noch viel passieren darf. Auch wenn es einen längeren Atem braucht und die Anfragen recht zierlich eintreffen. Das bringt die Thematik wohl mit sich. Deshalb bin ich auch dankbar für dieses Interview! Jede Art des öffentlichen Redens ist ein wertvoller Baustein.
Kannst Du mir zu Dir erzählen und wie Du zum Film gekommen bist?

Ich habe mich schon sehr früh mit audiovisuellen Medien beschäftigt und immer gern gezeichnet. Sei es das Diktiergerät meines Vaters oder später dessen Videokamera. Dann kam das Musizieren dazu und die Audioaufnahmen mit der Schulband, was dazu führte, dass ich Medientechnik studieren wollte. Der anschließende Master führte dann zum Animationsfilm und schloss somit den Kreis. Mit dem Handwerk habe ich schon so einige Experimente gewagt und mache Live-Visuals für Theater und Bands. Daneben unterrichte ich Animationsfilm und ‚versklave‘ meine Studenten jährlich zu kollaborativen Animations-Projekten. Das Ganze sehr bewusst freischaffend und immer mit zu wenig Geld. Dafür mit dem Luxusgut frei einteilbarer Zeit und der Leidenschaft für ein Werkzeug, das kaum vielseitiger sein könnte. Es ist jedes Mal, als würde man eine neue Sprache erfinden. Der Animationsfilm schafft dabei Blickwinkel, die über das Denken hinausgehen. Bei „Lina“ sind viele Bilder erst beim Zeichnen entstanden. Da hat das Unterbewusstsein die Hand geführt.
Sind bereits neue Projekte geplant?

Einige Skizzen und Ideen liegen am Tisch. Ich denke grad jeden Tag daran und versuche abzuwägen, welches Thema wieder eine derartige Motivation beherbergt, sich einerseits über einen längeren Zeitraum damit zu beschäftigen und andererseits den Mehrwert besitzt, dass es auch etwas wirklich relevantes erzählt. Das dokumentarische Arbeiten, gekoppelt mit Animationsfilm, ist eine sehr spannende Nische und ich kann mir sehr gut vorstellen, hier wieder ein Thema aufzugreifen, das mit klassischen filmischen Mitteln weniger zugänglich wäre. Ich habe aber auch gemerkt, dass einen eine Thematik auch ganz schön mitnehmen kann. Selbst wenn man ‚nur‘ als Beobachter in die Geschichten eintaucht. Lina war hier schon eine sehr hohe Gewichtsklasse und hat emotional sehr viel Kraft benötigt. Bei einem nächsten Projekt darf das ruhig eine Nummer leichtfüßiger sein, ohne dabei den Tiefgang zu verlieren. Das wäre angenehm.
Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker
"Testkammer", Plattform für Film-Rezensionen und -gespräche - www.testkammer.com
Rezension "Lina" - www.testkammer.com/2025/12/02/lina-2025
Neun Fragen an Remo Rauscher - www.testkammer.com/2025/12/02/neun-fragen-an-remo-rauscher

