In letzter Minute entscheide ich mich, doch noch hinzufahren. Nur vierzig Minuten entfernt und der gedrängte Tagesablauf lässt es wider Erwartens zu. Die Straßen von Amstetten erinnern mich irgendwie an Wels, die Kreuzungen, die verwinkelten Abzweigungen, die Lichtstimmung an den menschenleeren Ecken. Und da passiere ich schon das Jugendzentrum A-Toll, wohin mich Helga Steinacher heute Abend eingeladen hat.
Die Tür zum Veranstaltungsraum steht offen. Genauso wie die Downloadseite meiner Filmdatei am projizierten Bild an der großen weißen Wand. Schlagzeug und Gitarren im einen Eck, die kleine Bar im anderen. Gleich werden mir die Vereinsmitglieder und die scherzhaft erähnten zwei Gäste vorgestellt. Darunter auch Christian Kitzwögerer, der Regisseur von Vorurteil, dem heutigen Thriller. Wir kommen sofort ins Gespräch und er erinnert sich, Lina beim Screening der Dialogtage Amstetten schon gesehen zu haben. Nur der Name sei ihm entfallen, der Film und das Thema haben ihn und seine Partnerin aber noch lange beschäftigt. So intensiv der Eindruck, so prägnant das Echo der stilisierten Bilder. Ein Feedback, wie man sich es kaum besser wünschen könnte als Filmemacher.

Die Gruppe M.R.T. auf Gitarre, Bass und Schlagzeug eröffnen den Abend mit Filmmusik. Kompositionen und Melodien aus Klassikern, Stimmungen aus Hitchcock, Lynch oder Jarmusch. Hochgradig stilvoll und bescheiden. Ich bemerke eine kleine Traube jugendlicher Migrant:innen am linken Ende der Stuhlreihe, die jede Nummer im Hochformat mitfilmen. Ich grüble über ihren Bezug zur Veranstaltung, ihr Interesse an der Musik? Die Antwort erübrigt sich, als das Screening nach kurzer Einführung beginnt. Die Gruppe ist verantwortlich für die Technik und hilft im Jugendzentrum. Und wie ich später erfahre, verfolgt der Verein seit jeher einen menschenverbindenden Ansatz im Kulturschaffen, wobei das Medium Film als Vehikel und Bindeglied fungiert. Dabei entstehen Räume und Chancen im ehrenamtlichen Umfeld. Eine Symbiose aus Kultur und Integration, die mit leichtfüßiger Selbstverständlichkeit tatsächlich andockt.
Frau Steinacher bittet nach dem Film vor die Leinwand und wir begegnen gemeinsam dem Phänomen Sternenkind. Wir bemerken die Allgegenwärtigkeit, die Wurzeln der Tabuisierung, die Hemmschwellen der Gesellschaft, das Manko kultureller Blaupausen. Auch das Handwerk interessiert das Publikum, wo teils nickendes Einverständnis durch den Raum spricht. Es tauchen Fragen zum Prozess der Interviewsammlung auf. Man könne es sich nicht vorstellen, wie man an diese offenen Menschen kommt, um einen derartigen Film zu gestalten. Die Antwort verblüfft mich bis heute. Denn der Aufruf startete über gut dreißig Kontakte aus dem Freundes- bzw. Bekanntenkreis via Email. Ein dazugehöriges Erklärungsvideo und die formulierten Intentionen auf der Website genügten, um die Türen zu öffnen und den Ball ins Rollen zu bringen. Und klar, im Gegensatz zu Filmaufnahmen entkräften anonyme Audio-Aufnahmen die Hürde, sich intim zu öffnen. Darüber hinaus greift das vehemente Bedürfnis der Betroffnen, dem Tabu entgegenzuwirken. Wir bemerken, dass sich hier schon viel verändert hat und das Tabu bröckelt. Sonst würden wir ja heute nicht hier sein.
Nach dem dritten Film “Am Grat”, ein feinfühliges Beziehungsmoment eines Brüderpaares, leitet die Band in den Ausklang des Abends. Rund und wertschätzend. Christian und ich verlieren uns im Plaudern an der Bar, bemerken, dass es spät geworden ist, bedanken uns bei den Gastgeber:innen und verabschieden uns am Parkplatz. Wir freuen uns über die Begegnung, die wertvollen Gespräche und die grandiose Initiative, die unser Schaffen sichtbar macht. Danke, gute Nacht und bis hoffentlich bald.
Perspektive Kino – perspektive-kino.at
Christian Kitzwögerer – mostviertelfilm.at
Matteo Sanders - Am Grat (2022, Filmakademie Wien)
Jugendzentrum A-Toll Amstetten - jugendzentrum.amstetten.at

