Innovation Award am Crossing Europe

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Die Freude ist riesig. Lina gewinnt beim Crossing Europe den “Innovation Award”. Ein vom Land Oberösterreich gestifteter Preis für Arbeiten aus dem Bereich der Animationsfilmkunst. Schon beim der Premiere haben mich viele positive Rückmeldungen erreicht. Allein die Anwesenheit von fast der Hälfte der Stimmen des Films waren ein tiefgreifendes Statement für Rückgrat und Bedürfnis. In Begleitung von drei tatsächlichen Regenbogengeschwistern1 quietschen wir durch das Programm und halten unsere Sterne hoch. Es folgen viele offene Gespräche.

Durch feinfühlige Animationen schafft dieser Film einen Raum, in dem Betroffene offen sprechen können, ohne sich zu exponieren. So entfaltet sich ein breites emotionales Spektrum zu einem Thema, dem sich viele lieber entziehen. Die Scham darüber „Fehler im System“ zu sein, macht das Versagen des Systems sichtbar. Der Film gibt dem „Elefanten im Raum“ eine Gestalt, die Bildsprache erreicht Tiefen, die sich in Worten alleine nicht fassen lassen.

Jury Statement

Es erreicht mich auch ein Feedback einer Festival-Moderatorin, die schlicht meinte “Hi Remo, danke. Ich hab so geheult bei deinem Film.”. Und ich darf gestehen, dass es mich auch immer wieder drückt, wenn der authentische Soundtrack die vielen Ebenen öffnet. Jedesmal. Auch beim Publikumsgespräch bibbert die Stimme und eine Freundin muntert mich danach auf, doch mehr “raus zu gehen”. Ich soll mich doch trauen. Dabei ist es weniger eine Verhaltenheit, als ein Knödel im Hals. Auch die Moderation beim Publikumsgespräch vergisst beim Aufrufen aller anwesenden Filmgäste meine Namen. Seine weibliche Kollegin erinnert daran. Eine unscheinbare Nebensächlichkeit, die mir eine Freundin danach nochmal kommentiert. Denn das Unterbewusstsein lässt schon manchmal unangenehme Themen unter den Tisch fallen. Ein Freud’sches Ausweichen könnte man meinen. Das Gespräch danach sehr feinfühlig und pointiert.

Crossing Europe Publikumsgespräch

Von den vielen anwesenden Stimmen des Films imponiert mir Elisabeth. Sie hatte anfangs gezögert zur Aufführung zu kommen. Zu tief sitzt der Schmerz der sieben verlorenen Kinder. Sie wüsste nicht, ob sie es durchhalten würde. Und dennoch erscheint sie, bleibt bis zum Abspann von Lina* und verlässt danach das Screening. Sie braucht Zeit zum Verarbeiten. Das gesamte Programm sei viel zu lang. – Ich freue mich, sie danach draußen zu treffen und wir reden. Dann erkenne ich, dass sie eine besondere Kette um den Hals trägt. Aus bunten Holzperlen mit Buchstaben. Es handelt sich um die chronologisch aufgefädelten Namen aller ihrer Geburten. Zwölf an der Zahl. Die Kette hatte sie gemeinsam mit ihrer Familie vor einiger Zeit bei einem gemeinsamen Ritual gebastelt. Viele Jahre nach den Ereignissen. Eine manifeste Vergegenwärtigung, die ihr Kraft spendete die Reise auf sich zu nehmen und nach Außen zu gehen.

Beim Essen mit Familie und Freunden, die übrigens aus weiten Teilen Österreichs angereist waren, kommen weitere Geschichten hoch. Nicht nur, dass meine über siebzigjährige Tante klagt, dass ihre eigene Fehlgeburt vor zig Jahren kaum gehört oder nie besprochen wurde. Leider sehr typisch in der Generation meiner Eltern. Aber auch ein viel jüngerer Gast kommt auf mich zu: Justus ist der Neffe von Eva, einer weiteren Stimme des Films. Er bedankt sich für den Kontakt zum Beerdigungsinstitut Komet und ich staune: Er hat damit buchstäblich seine Berufung gefunden. Er sprudelt nur so von Geschichten, die er als frisch gefangener Lehrling dort schon erleben durfte. Am ersten Tag beantwortete er einen Anruf von einem Selbstmörder, der sich am Folgetag abholen lassen wollte. Durch die Frage des Chefs, ob er sich das auch wirklich gut überlegt hätte, ließ sich der Suizid tatsächlich abwenden. Er erzählt vom Kepler Universitätsklinikum, wo er die Räumlichkeiten im Keller sehen durfte, wo die Sternenkinder aufbewahrt werden. Abhandlungen von Zugunglücken und Begegnungen mit der Kriminalpolizei folgen. Seine Augen leuchten und er schmunzelt über’s ganze Gesicht. Aber nicht, weil er es leichtfertig für spektakulär hält. Sondern weil ihn die Schule des Lebens fasziniert und bereichert. Er spürt den Puls der Zeit und strahlt mit Weitblick.

Die größte Freude, abseits der charmanten Schneekugel und der großen Anerkennung stellen für mich die Folge-Screenings dar, die das Festival mit dem Programm Crossing Europe Goes betitelt. Ausgewählte Filme werden in den nächsten Monaten zu vielen Programmkinos quer durch Österreich reisen. Für Lina* stellt dies viele weitere Chancen dar, um das Thema und viele Türen zu öffnen. Somit gilt der größte Dank einer einfühlsamen Jury, die ähnliche Werte vertritt und natürlich dem Festival für die große Bühne, die sie den lokalen Filmschaffenden bietet. Denn die gesetzten Impulse wurzeln tief und nachhaltig über die Grenzen der Szene hinaus.

Crossing Europe Film Festival 2025
- Awards & Jury Statements
- Crossing Europe Goes
Der Innovation Award wurde initiiert von ANIMA PLUS – Verein zur Förderung der Animationskunst
  1. Ein “Regenbogenkind” im Sinne der Duden-Definition ist ein Kind, das nach einer vorangegangenen Fehlgeburt oder einem Kindertod geboren wird. Es symbolisiert Hoffnung und Neubeginn nach einer Zeit der Trauer. (Quelle: Wiktionairy) ↩︎

By remo

Remo RAUSCHER *84

Persönlich habe ich die Erfahrung eines Sternenkindes nicht erleben müssen, war aber bei Freunden hautnah dabei und durfte erfahren, dass es eine große Bereicherung für den Verarbeitungsprozess sein kann, wenn man als Paar nicht alleine damit ist. Daraus resultierte die Idee für das Projekt LINA, um neue Zugänge in Form von Interviews und einem gezeichneten Film zu erarbeiten.

Filmemacher aus Linz an der blauen Donau. Freude an der Paarung experimenteller Ansätze mit gesellschaftlicher Anwendung. Tätig in den Bereichen Bühne, Animationsfilm und kollaborativem Filmemachen für Jugend und etwas älter.
www.remorauscher.at