#7 Der goldene Stift und die neue SuperKraft

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Es ist ein frühlingshafter Sonntag und ich lehne mich aus dem Fenster. Den Weg beschreibend. Eine lachende Stimme im Ohr. Ein adrett gekleideter Mann schlendert vor dem Café vorbei und telefoniert auch. Ich verkneife mir das Rufen. Das stimmt nicht überein, das kann er nicht sein. Und dann: farbenfroh und gleich nach oben winkend biegt er um die Ecke: David Weichenberger. Mit oberösterreichischen Wurzeln und der Familienfeier hatte es sich heute gut ergeben, Er lebt mittlerweile im Herzen von Innsbruck. Der Berge wegen. Sein Sohn heißt Lenz Wolke.

Die waren irgendwie volle freundlich und ich dachte: Scheiße, die sind alle viel zu nett zu mir. Das kann kein gutes Zeichen sein.

Er war gerade im Begriff das Formular für den Papa-Monat abzugeben, als der Anruf seiner Freundin kommt. Etwas stimme nicht, er solle bitte sofort kommen. – Auf nach Augsburg, so schnell es geht. Der Trip muss Hölle gewesen sein. Rein in die Klinik. Das Personal heißt ihn auf eine Art und Weise willkommen, die David sofort merken lässt, dass es keine Hoffnung mehr geben kann. Zu freundlich, viel zu nett. Kein gutes Zeichen.

Eine Routineuntersuchung, die keine Herztöne mehr erkennen lässt. Das Kind ist nicht mehr am Leben und David traut sich von Anfang an, bedürftig zu sein. Er bittet um Hilfe, fragt nach Unterstützung. Weiß, dass er völlig überfordert ist. Dass aber eine derartige Seelsorge nicht im Repertoire einer Klinik zu finden ist – zumindest nicht für Männer – bekommt er nach und nach zu spüren. Aus seiner Enttäuschung wächst Tatendrang und ein unbedingtes Bedürfnis. Er braucht Hilfe, um mit der Verletzung umgehen zu können. Nicht zuletzt weil er ohnehin fortan mit ihr leben muss.

Aber es ist halt auch so, dass es überhaupt nicht vorgesehen ist, dass ich als Mann Unterstützung brauch in dieser Phase. Weil da ist es ja die Mutter, die jetzt den schwierigen Moment hat. Aber für mich als Vater ist es genauso schwierig, wenn mein Kind jetzt da nicht lebendig auf die Welt kommt.

Fündig wird er in Kufstein. Die Trauergruppe für verwaiste Eltern ist überrascht über sein Auftauchen. Seine Freundin wird das Kind bald tot auf die Welt bringen. Er möchte wissen, was auf ihn zukommt. Er möchte mit dem Schmerz in Verbindung gehen. Das Verschwinden seiner Lebensfreude einordnen können. Möchte wissen, wie man damit aktiv umgehen kann. Was es denn überhaupt zu tun gäbe? Mal rein dafür, um Optionen zu haben. Denn die Zeit steht still und es ergibt zum ersten Mal in seinem Leben einfach keinen Sinn.

Er trifft bei der Trauergruppe Menschen, die den Schmerz als adäquat betrachten. Ihm eine Daseinsberechtigung einräumen. Und doch ist es ein Schockmoment, als er realisiert, dass einige Leute die Gruppe schon seit mehreren Jahren besuchen. Fakt genug, um der Realität ins Auge zu blicken: „Wenn ich mich nicht gleich damit beschäftige, dann beginn ich damit womöglich erst in vier Jahren oder so.“

Die Erinnerung macht einen Sprung zurück in die Klinik. Der ganze Gegenwind. Die natürliche Geburt will man ihnen ausreden. Fürsorge für den Vater gibt es nicht. Maximal für eine zusätzliche Person für die Mutter. Corona macht es doppelt schwierig. Doch David zeigt sich stolz, dass sie sich beide vehement für ihre Bedürfnisse eingesetzt haben. Für die Geburt besorgt er sich im Vorfeld eine Therapeutin, um seine wunden Punkte klarzukriegen. Und auch, um das klinische Setting auszuhalten, das das Paar so garnicht am Plan gehabt hatte.

Wo’s überhaupt nicht um Richten oder Gutmachen geht, sondern es gibt auch Schönheit in diesem Moment, der so weh tut. Und für den nehmen wir uns jetzt einfach Zeit.

Die Geburt passiert. Sie schaffen es, eine Fotografin in die Klinik einzuladen. Er erinnert sich, dass sich die Stimmung gut angefühlt hat. Es war total hilfreich, dass sich plötzlich der Fokus verschieben durfte. Da kommt jemand, der in diesem furchtbar schmerzhaften Moment auf die Schönheit schaut. Wo es überhaupt nicht um Richten oder Gutmachen geht. Wo sich Zeit genommen wird. Wo einem Gefühl Platz gegeben wird, das ganz neu und doch im unmittelbaren Schwinden begriffen ist: Die paar Momente, wo man sich als Familie spürt.

Es folgt die nächste Überforderung. Er erzählt von der Kraft, die er gesucht hat, um auf Ämtern immer und immer wieder alles von Neuem zu erklären. Dass er Freunde darum gebeten hat, Telefonate zu führen. Wie er bewusst nach männlichen Betroffenen gesucht hat, um mit seiner eigenen Rolle klarzukommen. Ganz konkret beschreibt er mir die Stelle an seinem Körper, wo er den Schmerz gespürt hat. Ein Stechen unter dem Brustbein. Immer wieder versucht er damit in Verbindung zu gehen. „Und irgendwann erwischt man ihn und es lässt nach“, meint er.

Hey ich weiß, es ist einfach mega-scheiße, aber ich nehm mir Zeit, um einfach schöne Momente zu erzeugen. Wir planen ganz bewusst „Schöne Zeit“.

Er saß in der Wiese, als ihm ein Bekannter eine brauchbare Strategie schildert. Neben all den Tiefen und dem negativen Sog, dem man dabei ständig ausgesetzt ist, sollte man nicht darauf vergessen, schöne Momente zu kreieren. Ganz bewusst einen schönen Tag planen, sich etwas Gutes tun und das wirklich spüren. Nicht nur rational verstehen, sondern tatsächliche gute Gefühle erzeugen. Um dabei eine physische Erinnerung im Emotionshaushalt zu verankern: „Okay, jetzt ist es grad schmerzhaft. Aber es verändert sich“.

Im Ringen nach weiteren Möglichkeiten, lässt sich David von der japanischen Philosophie des Kintsugi inspirieren. Die dortige Kultur trägt eine besondere Symbolik im Umgang mit beschädigtem Porzellan. Zerbrochenes wird auf möglichst sichtbare und verschönernde Weise repariert. Die Bruchstellen werden mit einer Kittmasse vervollständigt, die mit feinstem Pulvergold bereichert wird. Eine Aufwertung, die der Geschichte des Gegenstands sichtbar Rechnung trägt.

So wird es in der harten Phase zur Routine, dass sich David seine eigenen Bruchstellen mit einem Goldstift markiert. Um mit seinem Schmerz in Verbindung zu treten, ihm Raum und Farbe zu geben. Der Tagesverfassung entsprechend immer wieder neu. Im Gesicht, unter dem Brustbein – egal wo. Er trägt es sichtbar nach außen, demonstriert dabei die omnipräsente Dualität von Schmerz und Schönheit am eigenen Körper.

David Weichenberger mit Goldfarbe im Gesicht. Seine Interpretation der japanischen Philosophie von Kintsugi.
David Weichenberger mit Goldfarbe im Gesicht. Seine Interpretation der japanischen Philosophie des „Kintsugi“.
(c) Selbstportrait, 2021

Lange konnte er sein „Alles-Wird-Gut-Gefühl“ nicht mehr erreichen. Und er hat auf viele Arten versucht seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Sei es im Malen, im Sport, im Reden. Und er weiß, dass ein Teil von ihm innerlich zerbrochen ist. Umso mehr möchte er dies als etwas Wertvolles betrachten. Den Schmerz aus der Reserve locken, bewusst in Bewegung gehen, um dem Stillstand entgegenzutreten.

Auf die gewagte Frage, wo denn bei dem ganzen Optimismus noch das Bewahrenswerte läge, was man daraus schöpfen und mitnehmen könne, bekomme ich zur Antwort, dass er eine neue Superkraft an sich entdeckt habe. Denn das Trauern hat er erst lernen müssen. Sowas war nie Teil von seinem Lebensentwurf, wo immer alles glatt ging. Dass er heute in der Lage ist, Menschen zuzuhören, Trauer anzunehmen und womöglich damit helfen zu können – dafür ist er heute sehr dankbar. Vor allem, dass er von so vielen wunderbaren Menschen auf dieser emotionalen Reise begleitet wurde. Freunde, Familie, Bekannte, ehrenamtliche sowie professionelle WegbegleiterInnen haben ihm und seiner damaligen Partnerin gelehrt, welch vielfältige Umgangsformen der Trauer innewohnen.

Als Bonus folgt noch eine weitere Geschichte über Baumperlen, die er seit dieser Zeit finden und sammeln gelernt hat. Wo ein Absterben eines Astes ein wunderliches Gewächs entstehen lässt. Wo Bäume ihre Wunden tränenden Harzes versiegeln und neue Rinde in rundliche Gebilde fließt. Wieder ein Symbol, das ihm Kraft gibt und erinnern lässt, dass Heilung Zeit beansprucht. Dass auch die Natur nicht von heute auf morgen regeneriert. Und auch die Perlen fallen irgendwann ab, wenn die Zeit dafür reif ist. Und so verlassen auch die Bruchstücke eines großen Schmerzes hie und da den Korpus, verheilen und hinterlassen eine Spur, mit der man in Verbindung gehen kann.

Das Gespräch harmoniert auf feinfühlige Weise, was Monika Osl wohl vorhergesehen haben muss. „Auf einer Wellenlänge“ hat sie uns beschrieben und ich darf ihr heute zustimmen. Wo doch die zwei wildfremden Halbtiroler bald die Zeit übersehen. Denn der Zug nach Innsbruck geht bestimmt pünktlich. Und erst als die Mikrofone schon ab sind, frage ich, warum denn unbedingt die Berge, wo doch die Ex-Partnerin in Augsburg lebt. Und erst da erfahre ich, dass ich dem Weltmeister im Downhill-Einrad gegenüber sitze.


Kintsugi - Traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik
Trauergruppe für verwaiste Eltern - Monika Osl, Kufstein
By remo

Über das Projekt

Das Projekt sammelt Geschichten und Stimmen zum Thema ‘Sternenkinder’ und möchte dies in Form von Audioaufnahmen zu einem Animationsfilm verarbeiten.

Die gesammelten Ergebnisse der Gespräche, sowie Einblicke in das Handwerk des Animationsfilms sollen über diese Webseite einem interessierten Publikum zugänglich sein. Ebenso soll dieses Archiv betroffenen Menschen als Inspiration und therapheutische Anlaufstelle dienen.

Das hier beleuchtete Phänomen ist kein Seltenes, und gerät als gesellschaftliches Tabu oft in eine prekäre Nische, die zu seelischen Schieflagen führen kann. Für den Film und die Sammlung werden Menschen gesucht, die anderen Betroffenen neue Sichtweisen und heilende Perspektiven schenken wollen.