#14 Der blinde Fleck der ehrlichen Werkzeuge

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Sie hat extra nochmal nachgesehen auf der Dropbox und die Fotos bestätigen, dass es tatsächlich schon wieder acht Jahre her ist. Eine durchwachsene Zeit mit vielen neuen Erfahrungen. Die Anstellung als Theaterpädagogin in Bayern, vorerst für einen Sommer lang. Dann die bald toxische Beziehung. Als damals gastierende Randfigur und alter Freund war auch ich Zeuge einiger Passagen, kenne die groben Züge und so manchen Charakter. Ich frage nach den Werkzeugen im Umgang mit dem Tod, nach gesunden Methoden. Denn ich weiß, dass Anna schon in früher Jugend ihren Vater und erst kürzlich ihren Bruder verloren hat. Faustdick mussten sie und ihre Mutter das erleben. Umso standhafter heute ihre Lebensfreude und die Gewissheit, dass sich Leben und Tod viel näher sind, als man landläufig glaubt. Und dass jede Episode ihre Zeit behauptet.

Im Mai 2016, kurz nachdem sie sich nach langwieriger Trennungsphase lösen konnten, hält Anna einen positiven Test in Händen. Eine Überraschung, die mit der absoluten Überzeugung einhergeht, das Kind abzutreiben. Schon allein wegen der unmöglichen Beziehung und der damit verbundenen lebenslangen Bindung kann sie sich das auf keinen Fall vorstellen. Lässt dem Ex-Partner aber schlußendlich doch wissen, was passiert ist. Es folgen Entrüstung und die Anschuldigung, sowas nicht alleine entscheiden zu können. Der emotional aufgeladene Abtausch befördert einen für unmöglich gehaltenen Aufschwung und wiederbelebt die Beziehung. Vielleicht könne man sich ja zusammenreißen, an der Herausforderung wachsen? Diesem – aus heutiger Sicht eher konstruierten – Glaubenssatz entspringend, wächst die klare Entscheidung für ein Kind, das Anna heute schlicht „Baby“ nennen will.

Bereits in der fünften Woche beginnen beide die frohe Botschaft in die Welt hinaus zu posaunen. Freunde, Familie, in der Arbeit. Ein positiver Sog, der Wellen schlägt. Die frisch geglaubte Großmutter ist aus dem Häuschen und beginnt imaginär schon das Kinderzimmer einzurichten. Der Stiefvater ist hingegen eher skeptisch. Kennt er doch den Sohn eher als Vagabunden, nicht als beständigen Familienmenschen. Aber man darf vermuten, dass dieses euphorische Taumeln den schwammigen Knien als Krücke gedient haben mag.

Arzt von draußen: Jetzt ziagn’s ihna mal an!
Anna: Ich weiß jetzt auch nicht … was heißt das? Mein Baby ist jetzt tot oder was?

Eigentlich wollte sie nie einen männlichen Frauenarzt, war in Österreich auch immer schon bei einer Frau. Bis sie für den neuen Job ins Nachbarland wechselt und kurzerhand einen Termin braucht. Sie schildert mir den Ablauf: die Entdeckung der Schwangerschaft, dann die ärztliche Bestätigung und erst in der zehnten Woche hat man die erste richtige Untersuchung. In diesem Stadium laufen die Ultraschallgeräte nicht über den Bauch, da ist alles noch viel zu winzig. Man sondiert vaginal und der Arzt erklärt, was man auf dem Bildschirm sehen soll. Eine trockene Aneinanderreihung von medizinischen Schilderungen. Und in eben dieser gleichbleibenden Tonalität entkommt dem Arzt in gediegen bayrischem Akzent: „Jå, do is ka Herzschlog.“

Von der Aussage vollkommen überrumpelt beginnt Anna Fragen zu stellen. Mit entblößtem Unterleib am Gynäkologenstuhl möchte sie wissen, was los ist. Der Arzt dreht sich nur weg. Was heißt hier Herzschlag? Was soll das heißen? Er beendet die Untersuchung abrupt, verweist die Patientin in die Umkleidekabine und fordert auf, sich anzuziehen. Anna erinnert sich an ihren „Heulkrampf“, den irren Zustand, der es unmöglich machte, die Strumpfhose anzuziehen. Sie schafft es in die Kabine, verheddert sich weiter und stellt dabei immer dieselben Fragen. Aber der Arzt geht nicht auf sie ein, wird ungeduldig und fordert abermals auf, sich endlich anzuziehen. Er betet aus dem Handbuch: Entweder es geht von alleine ab oder sie könne eine Ausschabung machen. Fassungslos wiederholt Anna durch die geschlossene Tür: „Was heißt das jetzt? Mein Baby ist jetzt tot oder was?“

Mit der Strumpfhose in der Hand kommt sie zur Sprechstundenhilfe. Ihr wird geraten, dass in ihrer Situation wohl eine Ausschabung das Beste sein wird. Sie solle einen Termin nennen, das darf gleich organisiert werden. Als sie kein Datum nennen kann, wird auch diese Person pampig und will nicht verstehen, dass man im Theater nicht fehlen kann. Schon garnicht mitten in der Festspielzeit. Anna hat die Schnauze voll und will nur mehr weg. Sie beginnt zu hyperventilieren. In diesem Zustand lässt man sie nicht Auto fahren. Man bringt sie in einen Raum und stellt ihr ein Glas Wasser auf den Tisch. Sie solle sich erstmal beruhigen.

Das war für mich das Schrägste an dem Ganzen, dass ich da so komplett nackt war. Überhaupt so unvorbereitet. Offensichtlich ist das ein blinder Fleck gewesen.

Viele verschwiegene oder schwierige Themen sind ihr schon untergekommen. Vor allem im Theater, das sich oft kritischen Randthemen widmet. Genau deswegen ist sie heute extra-perplex, denn auf diese Erfahrung war sie absolut nicht vorbereitet worden. Weder familiär, noch gesellschaftlich. Ein brutal blinder Fleck, verstärkt durch die vielen Kommentare, die da behaupten: „Sowas erzählt man doch nicht vor der zwölften Woche!“ Umso naiver kommt sie sich vor, angesichts einer Realität, die sich hier von hinten angeschlichen urplötzlich über sie stülpt.

Augenblicklich sucht sie das Gespräch mit Freunden. Und es beginnt die große Frage nach dem Warum. Sie hat nie etwas falsch gemacht. Sie weint und flucht, ist bald der Erschöpfung nahe und will sich eigentlich nur mehr betäuben. Den Druck von der Brust saufen. Aber weder Alkohol, noch rauchen bringt sie übers Herz. Obwohl das Kind ja offensichtlich nicht mehr lebt, kann sie sich keine Giftstoffe zuführen. Es würde sich verdammt falsch anfühlen.

Und natürlich wird daraufhin auch die Beziehung wieder leck und Anna wird extrem traurig. Es ist ihr klar, dass es sich im Grunde um einen Haufen Zellen handelt, die sich geteilt haben. Aber was hier stirbt, ist ein gigantisches Bild einer gemeinsamen Zukunft. Eine der grundlegendsten Veränderungen in deinem Leben. Nichts im Vergleich mit einem neuen Job oder dem Kauf eines Autos. Man wäre ewig gebunden, würde alles danach ausrichten. Ab Sekunde Null rotieren diese Gedanken. „Das ist ganz schirch, wenn du in so einer Vorbereitung bist und dann kommt niemand.“

Warum hab ich das nie in einem Film gesehen, warum hab ich das nie in einem Theaterstück gesehen? Warum hab ich das nie in irgendeinem verschissenen Buch gelesen? Wo war das?

Sie erinnert sich, bald sehr zornig geworden zu sein. Nie zuvor hatte ihr auch nur Irgendjemand von solchen Vorfällen erzählt. Nichtmal im näheren Umfeld. Und plötzlich häufen sich die Anekdoten über ähnliche Schicksale. Als die eigene Mutter von der damaligen Episode mit der angewachsenen Plazenta erzählt, potenziert sich der Grant1. Nach einunddreißig Jahren tritt diese Geschichte zum ersten Mal im Mutter-Tochter-Gespräch zu Tage. Und genau hier sitzt die Wurzel des Vorwurfs und die Krux aller verhaltenen Nebensätze. Denn würde ein offenerer Umgang stattfinden, wäre Anna nicht komplett nackt vor einen Monstrum an Unverständnis gestanden. Hätte zumindest eine Hand voll anderer Schicksale zum Festhalten gehabt. Und es scheint, als müsste man bereits durchs Feuer gegangen sein und als Clubmitglied ein verschrobenes Reifezeugnis um den Hals tragen, um von den vielen Geschichten erfahren zu dürfen.

Nun. Der Rest verläuft dann irgendwie recht unkompliziert. Die Ausschabung wird vereinbart und der Termin kommt. Natürlich ist Anna nervös, aber alles läuft glatt. Das starke Bluten bleibt aus, das ihr prognostiziert wird. Keine Schmerzen, keine Folgeerscheinungen. Am nächsten Tag wieder voll im Einsatz. Eine Eröffnung mit vielen Kids, die übliche Dröhnung im gewohnten Durchhaltevermögen. Die Ablenkung tut gut, ob des ekligen Geschmacks, den ihr die Vorstellung über die Ausschabung im Nachhall bereitet.

Spätestens hier bröckelt auch die Beziehung wieder massiv. Die absurden Vorwürfe, die Traurigkeit würde übertrieben sein, münden im erneuten Zerwürfnis. Nach kurzer Zeit beschließt Anna zu kündigen und sich somit auch vom Ort zu verabschieden. Geliebäugelt hatte sie schon länger damit, den Entschluss nun endgültig gefasst. Und tatsächlich trägt sie an diesem Tag zufällig Schwarz, als sie einen Termin mit dem Intendanten erhält. Eine strenge, oft cholerische Figur in der Wahrnehmung vieler Kolleg*innen. Für die Zukunft des Jugendclubs lagen schon einige Pläne auf dem Tisch, die besprochen werden sollten. Sie schildert ihm die jüngste Vergangenheit, bekundet gehen zu müssen. Und im Nu ändert sich die Haltung des Herren und ein verständnisvolles, warmes Herz öffnet sich – er schildert eigene Erfahrungswerte, persönliche Betroffenheit. Und wieder findet sich Anna unverhofft im Club wieder, immer exotischer werden die Orte dieser Entdeckungen. Sie arrangieren sich. Die eigentlich festgelegte vertragliche Bindung spielt plötzlich keine Rolle mehr. Eine Unterschrift genügt und sie verabschieden sich in wohlgesinntem Einverständnis.

Also Leben und Tod gehören voll zusammen. Die sind sich ganz, ganz nahe. Obwohl wir manchmal so tun, als wäre das ganz weit weg von uns.

Es folgt die Beisetzung. Man wählt zwischen einer gesammelten Bestattung oder einer individuellen. Ersteres erzeugt das Bild einer unverortbaren Masse, Zweiteres erscheint angemessener. Anna räumt ein, es auch gerne privat beerdigt haben zu wollen, was natürlich ein rechtliches No-Go darstellt. Auch darf man das Gewebe nicht einsehen. Zu unscheinbar und ganz und gar unüblich wäre das, so die Erklärung der Medizin. Wir vermuten, dass es dem Verarbeitungsprozess wenig zugute käme, eine undefinierbare Masse als das eigene Kind visuell zu verankern. Die Überreste werden verpackt und von einer befugten Person abtransportiert, ehe die Bestatterin das kleine Paket zum vereinbarten Termin mitbringt. Auch der Kindsvater möchte an der Zeremonie teilnehmen. Händehaltend verläuft das Eingraben, das Überschütten mit Erde und die ergreifende Rede. Inhaltlich kann Anna davon heute nichts mehr abrufen, schildert nur das manifeste Gefühl einer tiefen Berührung.

Heute ist sie froh darüber, einen konkreten Ort zu wissen, wo dieses bestimmte Etwas liegt. Und ich frage sie, wie man es fertig bringt, etwas Unbegreifliches loszulassen. Und schon flackert wieder ihr Bruder auf, dessen Tod auf keiner Ebene mit dem damals entnommenen Kind verglichen werden kann. Gemein scheint die Strategie des bewussten Zulassens der Traurigkeit. Jeglicher Emotion Raum zu geben, um sie ebenso wieder ziehen zu lassen. Denn es kann dir immer und jederzeit passieren. Und dann musst du dem ins Auge sehen. Wie man das anstellt, ist im Grunde egal. Man kann ein Bild zur Hand nehmen oder eine Kerze anzünden, sinnieren oder sich einfach nur Zeit nehmen. Und über Kurz oder Lang wird man erkennen, dass man ein Mini-Mini-Teil eines Großen und Ganzen ist, auch nur ein Fragment der Natur, wo Sterben alltäglich ist. Verluste einfach passieren. Allesamt Sichtweisen, die massiv erden und verbinden können, solange man sich ein ausgewogenes Umfeld behält. Als fatal sieht Anna den ausschließlichen Umgang mit nahestehenden Trauernden. Denn zum Beispiel empfindet sie die Traurigkeit ihrer Mutter oft als sehr beengend. Es entsteht dabei eine negative Strömung, dessen Sog man ohne positiver Anhaltspunkte ausgeliefert wäre. „Das kann auch wohin führen, wo man schwer wieder rauskommt.“, so ihr Aufruf zur achtsamen Verarbeitung.

Umso mehr schätzt sie den offenen Zugang. Man stellt sich nämlich schnell die Frage: „Habe ich überhaupt Freunde, die mit mir traurig sein wollen?“ Weil es gehört ja nicht wirklich zum üblichen Ton, im alltäglichen Miteinander das Thema Tod in den Raum zu stellen. Wenige wissen, wie man ein derartiges Gespräch überhaupt eröffnet. Ein definitives Manko der modernen Wegschau-Gesellschaft. Anna wünscht sich simple und ehrliche Werkzeuge im sprachlichen Umgang. Man dürfe jederzeit danach fragen, ob eine Betroffene reden will oder nicht. Und man darf genauso einfach nur da sein, wenn jemandem nach Weinen zumute ist. Und sollte die Stimmung ein Gespräch über das Wetter oder den Garten fordern, dürfe man sogar lachen, Bier trinken und so tun, als wäre nix. – Alles ist möglich, solange man die wertvollen Schritte nicht verdrängt, die es für einen ehrlichen Umgang benötigt.

Da musst du sofort ein Paket haben für diese Frauen, wo drinsteht: Dort findest du Hilfe
und du bist nicht allein.

Gemeinsam rekapitulieren wir und finden, dass ein blauäugiges Wegschauen auch ein Überlebensmechanismus sein könnte. Denn es ist verständlich, dass Trauer nicht immer und überall Platz hat und an geeigneten Orten ihre richtige Zeit beanspruchen muss. Im Innen sowie im Außen. Um die gesunden Maßstäbe nicht aus den Augen zu verlieren. Denn man selbst ist ja schließlich am Leben, man kann alles haben, alles erleben: wie geil. Und das sollte man als Steigbügel nutzen, um den Kopf wieder über Wasser zu hieven und den Weitblick zu schulen. Um die Momente und Tage stets zu schätzen.

Einzig die Situation mit dem Frauenarzt bleibt Anna immer noch in fragwürdiger Erinnerung. Irgendwann im Sommer hatte sie ihn sogar nochmal beim Spazierengehen gesehen und den absurden Gedanken gehabt, ihn zur Rede zu stellen. Ihm zu schildern, wie schlimm das für sie war, als sie in der Praxis weder Antworten noch irgendeinen Kontext vermittelt bekam. Keine relativierenden Worte, keine Aufklärung über die Natur von Abgängen. Das Glas Wasser musste genügen. Und dabei gäbe es doch Schulungen, wo Ärzt*innen gezielt trainieren, Krebs- oder Todesbotschaften zu übermitteln. Wo Schauspieler*innen die Rollen der Betroffenen einnehmen und psychologische Handgriffe geübt werden, die ein gesundes Auffangen ermöglichen. Nur scheint die kulturell bedingte Beklommenheit auch in diesen Bereich abzufärben. Was es braucht, wäre ein simples Paket, das betroffenen Frauen kommuniziert, was in ihrem Körper passiert und wo sie Hilfe finden. Aufklärung und Feingefühl im Keim des Prozesses, um die Risse präventiv zu schließen, die ein fahrlässiges Wording verursachen kann.


  1. „Grant“ – Bayrisch oder Österreichisch für Übellaunigkeit oder Unmut. (Quelle: duden.de) ↩︎
By remo

Über das Projekt

Das Projekt sammelt Geschichten und Stimmen zum Thema ‘Sternenkinder’ und möchte dies in Form von Audioaufnahmen zu einem Animationsfilm verarbeiten.

Die gesammelten Ergebnisse der Gespräche, sowie Einblicke in das Handwerk des Animationsfilms sollen über diese Webseite einem interessierten Publikum zugänglich sein. Ebenso soll dieses Archiv betroffenen Menschen als Inspiration und therapheutische Anlaufstelle dienen.

Das hier beleuchtete Phänomen ist kein Seltenes, und gerät als gesellschaftliches Tabu oft in eine prekäre Nische, die zu seelischen Schieflagen führen kann. Für den Film und die Sammlung werden Menschen gesucht, die anderen Betroffenen neue Sichtweisen und heilende Perspektiven schenken wollen.