#10 Im Tempo des Gegenübers

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Eine ganze Serie an Todesfällen hat Eva in den letzten Jahren erreicht. Oft Paare, wo die männliche Seite aus unterschiedlichsten Gründen gehen musste. Nahestehende Freunde. Dann die eigene Mutter. Danach der lange Abschied vom Schwiegervater und aktuell der anhaltende Prozess mit der Schwiegermutter. In dieser Zeit holte sich die Familie Unterstützung in Form einer 24-Stunden-Betreuung. Eine selbständige Pflegerin, die in dieser intensiven Phase sehr schnell Teil der Familie wird. Als diese wiederum kürzlich ihre Schwangerschaft entdeckt, stehen sich Leben und Tod plötzlich unmittelbar gegenüber – wenn auch nur für einen Augenblick. Denn bei Valentin wird ein seltener Gendefekt diagnostiziert. Er würde, wenn überhaupt, nur wenige Tage oder Wochen überleben. Man rät zum Fetozid1.

Eva weiß, dass sie ihre rumänische Freundin nicht ohne Begleitung ins Krankenhaus gehen lassen kann. Allein schon wegen der Sprachbarriere. Als ehemalige Krankenschwester kennt sie auch den eng getakteten Alltag, wo es vorkommt, dass die Geduld nicht ausreicht, um komplexere Sachverhalte in einfachen Worten zu erklären oder wiederholt runterzubrechen. Wo rasch entschieden und gehandelt werden muss. Und die Entscheidungen am Ende immer bei der Mutter liegen.

Auf Wunsch darf eine Begleitperson anwesend bleiben. Normalerweise sind das die Väter, was in diesem Fall nicht möglich ist. Dieser ist selbständiger Unternehmer und hat keine Chance, sich rauszureißen und spontan anzureisen. Per Videochat steht er seiner Frau Tag und Nacht bei. Genauso wie die gesamte Familie quasi remote einen Schutzraum bildet. Die Mutter spürt, dass sie trotz der achthundertvierzig Kilometer Distanz nicht alleine ist. Eva übersetzt, vermittelt und fängt auf, was dem gebrochenen Deutsch durch die Finger gleitet. Für einen leistbaren Tagessatz arrangiert sie ein Zusatzbett und bezieht seit Minute Null die Position eines Fels.

Wir sind halt mehr und mehr zusammengewachsen. Genauso wie die Betten im Krankenhaus immer näher zusammen gerutscht sind. Zum Schluss war’s ein Doppelbett.

Es wird ihnen ein Zimmer auf der Gynäkologie zugeteilt. Es folgt eine Infobroschüre für die kommende Bestattung. Ein erster Flash – trotz des einfühlsamen Personals und der fachkundigen Aufklärung. Auf den Gängen ist es verhältnismäßig ruhig und doch ist die Stimmung merkwürdig. Eva zeigt mir ein Foto vom Türschild: „Bitte nicht stören“. Die Anzahl dieser Schilder lässt darauf schließen, dass hier einige Frauen liegen, die den gleichen Prozess durchmachen. Und das sind eigentlich nicht wenige.

Am ersten Tag: die Tötung. Die Mutter verabschiedet sich, redet mit ihrem Bauch. Bittet um Verzeihung. Eva erinnert sich, weil es für einige Tage, das letzte Mal gewesen sein wird. Man nicht geahnt hat, welchen Einfluss die Nicht-Loslassen-Wollende auf den Prozess haben wird. Dann wird örtlich betäubt, durch die Nabelschnur auch dem Fötus schmerzstillende Mittel verabreicht. Sie habe die Hände des Arztes zittern gespürt, schildert die Mutter später. Via Ultraschall wird durch die Bauchdecke geleuchtet, bis die Nadel im zweiten Anlauf das Kaliumchlorid in das fetale Herz transportiert. Wenige Minuten später der Stillstand.

Die Entscheidung liegt schlußendlich immer bei der Mutter. Medizinisch bekommst Du die Empfehlung, aber es zwingt dich keiner.
Es ist deine Entscheidung und die ist massiv heftig bei einem Wunschkind.

Den ausführenden Arzt die Tage darauf am Gang anzutreffen und zu grüßen, ist schon recht behaftet. Auch wenn er seinen Job gut gemacht hat, gibt es einfach keine gute Emotion dazu. Und trotz der verhärteten Stimmung, war die gesamte Belegschaft mit viel Gefühl dabei und hat die Patientin immer dort abgeholt, wo sie gerade war. Beide sind sehr positiv überrascht. Der Vorschlag die Betten zusammen zu schieben, kam auch von einer erfahrenen Schwester.

Ein bis eineinhalb Tage später bekommt man das erste Wehenmittel. Da sich die Natur erst in der sechsundzwanzigsten Woche befindet, muss man dem Körper signalisieren, dass es losgehen darf. Und dabei wünscht sich die Mutter nicht nur einmal, dass das Kind anderweitig entfernt wird. Immer wieder erklärt man ihr, dass ein Kaiserschnitt nur gemacht wird, wenn Gefahr für ein Leben besteht. Da dies für Valentin nicht mehr gilt, wäre der Eingriff und die Wundheilung ein Risiko. Solange keine Entzündungen oder dergleichen entstehen, wird eine natürliche Geburt bevorzugt. Auch um den hormonellen Abläufen möglichst in die Hände zu spielen.

Was mit zwei Tagen angekündigt war, nimmt einen Verlauf von fünf. Die Methoden greifen nicht. Der Körper der Mutter reagiert nicht so, wie man sich das erhofft. Und Eva erinnert sich, dass der Bauch der Mutter tatsächlich größer wurde, solange sie daran geglaubt hatte, dass das Baby aufgeht. Wie ein Toter, der im Fäulnisprozess fünf Tage in einem Zimmer rumliegt. Was halt einfach nicht der Fall ist. Psychosomatische Mechanismen sind oft viel penetranter als jedes Medikament. Unzählige Gespräche prägen die nächsten Stunden und Tage. Die intensive Nähe in dieser Extremsituation lässt auf menschlicher Ebene massiv zusammenwachsen. Eva verwandelt sich von der treuen Begleitung zur unabdingbaren zweiten Hälfte des Prozesses. Obwohl die Zeit voranschreitet und die Ärzte bald zu rudern beginnen, werden nur mehr Dinge zugelassen, die beide Frauen gutheißen. Und der Mutter hilft es enorm, trotz löchriger Dialoge. Durch Evas Erfahrung in der Körperarbeit hat sie Sensibilitäten dafür entwickelt, wo und wann sie mit ihren Fragen punktet oder etwas auslöst.

Ich weiß ja, dass das Baby jetzt kommen soll. Ich weiß es. Und ich versteh nicht, warum es nicht kommt. – Das bist Du, das ist dein Verstand. Das ist die Mutter in dir, die noch nicht loslassen will.

Mittlerweile dauert bald alles viel zu lange. Auf die Frage einer betreuenden Psychologin, stellen sie fest, dass die Mutter seit Tagen nicht mehr mit dem Fötus gesprochen hat. Sich wohl unterbewusst nicht trennen kann, aber auch versucht sich zu schützen. Daraufhin beginnen sie einen Brief zu schreiben. Mithilfe eines Übersetzungsprogramms erst am Telefon, dann auch per Hand auf Rumänisch. Ein essentieller Baustein im Trauerprozess, der später auch der Urne beigelegt wird.

Den letzten Tag verbringen sie fast nonverbal mit Körperarbeit. Eva berührt, wo die Mutter es braucht. Spendet und lenkt Aufmerksamkeit. Gemeinsam lösen sie Blockaden und erzeugen Bewegung. Schritt für Schritt betritt Akzeptanz das Feld. Die Mutter und Valentin lernen und beginnen voneinander loszulassen. Ein befreundeter Körperarbeit-Praktiker sendet Worte in der Landessprache. Ein heilsamer Impuls, wenn man im Ausland einer derartigen Situation ausgesetzt ist.

„Und ich muss sagen, dass ich es erst verstanden hab, als das Baby da war, dass es wirklich wichtig ist“, erinnert sich Eva und schildert, wie sie der strahlenden Mutter gegenüberstand, die soeben ihr Kind auf natürlichem Wege zur Welt gebracht hatte. Der Körper gleicht den physischen, sowie psychischen Schmerz aus. Die Hormonausschüttung ist nämlich immer die gleiche und die Mutter fühlt trotz der Totgeburt nur mehr Liebe und Glück. Ein Paradoxon der Natur, möchte man meinen. Und dabei entsteht unweigerlich ein sonderlicher Eindruck von Gleichgewicht.

Bei ihr sind genauso die Endorphine gekommen. Und sie hat auch gestrahlt, wie wirklich eine Mama strahlt, wenn sie ein lebendes Baby kriegt.

Heute zieht Eva den Hut vor der Hebamme, die den Raum so gut hält. Der Mutter auch volle Eigenmacht zugesteht, indem sie ihr die Dosierung des Lachgases selbst überlässt. Und so verdichtet sich auch die Atmosphäre, als die Familie im Staffellauf per Videochat der Mutter durchgehend den Rücken stützt. Die letzte Hürde überwindet sie nach einem wichtigen Kommentar einer Nachtschwester, die aus eigener Erfahrung veranschaulicht, dass die Angst bald von selbst weichen wird. Ereignissen wie diesen, wohnt immer etwas Engelhaftes inne. Ein Sprachbild, das der rumänischen Kultur näher steht, als so manch verkopfte Umschreibung.

„Dann war zu Sehen und Spüren, wie alles ganz weich wird bei ihr“, erinnert sich Eva und wünscht sich gleichzeitig, dass es „einfach nur ein schönes Kind“ wird. Und so kommt es dann auch. Denn Valentin ist sogar wunderschön. Genauso wie die folgenden Stunden im Kreiszimmer. Funkelnder Augen beschreibt sie das Bild auf dem Sofa, wo sie sitzen und Saft trinken. Ganz normal, wie Freunde mit einem Baby.

Spätestens hier drängt sich die Frage auf, inwiefern man sich in solchen Momenten unweigerlich in der Vaterrolle wiederfindet. Dabei durchtrennt Eva doch auch die Nabelschnur und bekommt jede Emotion als Einzige der Familie hautnah mit. Fängt ab, was der Mutter nicht gut tun würde, denkt an Amtsgänge und Organisatorisches. Die Mutter nimmt das Angebot, Valentin am österreichischen Familiengrab zu bestatten, gerne an. Wo Eva einige Tage später auch zum ersten Mal dem Vater begegnet.

Wir haben uns gut verstanden. Es war gleich eine gute Ebene da und klar, dass wir uns beide auf eine Art und Weise grad dankbar sind. Er mir, dass ich für seine Frau da war. Und ich ihm, dass ich das erleben hab dürfen.

Die kulturellen Unterschiede werden auch im Nachhall des Ereignisses noch des Öfteren sichtbar. Die Mutter entscheidet sich bei der provisorischen Gestaltung des Grabsteins für ein reales Foto von Valentin und durchstößt dabei ein Tabu, erinnert sich Eva. Auch die verschnörkelte Schriftart für die Gravur will man ihr anfangs ausreden. Geradlinig und lesbar muss es in Österreich sein. Die Mutter setzt sich durch und betont: „Rumänische Gräber haben diese Schrift und diese ist gut, weil mein Baby ist rumänisch.“

Eine Überstellung wäre schon rein aus Kostengründen nicht möglich gewesen. Man müsste eine befugte Person pro Kilometer bezahlen. Auch der Fetozid entspräche laut rumänischer Gesetzgebung einem Verbrechen. Durch die Hintertür hätte man es schon durchführen können, so die Erzählung. Doch notwendige Nachbehandlungen einer sich möglicherweise nicht lösenden Plazenta oder eine Curettage hätte das System in diesem Fall nicht aufgefangen. Eine prekäre Lücke im dortigen Gesundheitswesen, dem ethischen Verständnis einer stark christlichen Prägung anhaftend, hier kaum vorstellbar.

Eva bleibt diplomatisch auf die Frage, ob dem unsrigen Kulturkreis auch Dinge fehlen und sieht die Enttabuisierung als wichtigstes Mittel zur Verbesserung. Obgleich das Timing für die Infobroschüre zur Bestattung echt daneben war und auch das Angebot für eine Obduktion Empörung auslöst. In dieser surrealen Zeit kommt man in die Zahnräder eines Apparats, der in gewissen Abläufen mehr auf Korrektheit als Mitgefühl getrimmt ist. Und klar mag es helfen, den Gendefekt im Nachhinein bestätigt zu sehen. Nur welchen Rattenschweif das Gegenteil nach sich ziehen würde, berücksichtigt die Tonalität der Fragestellung nicht.

Ich muss jetzt die Entscheidung treffen, im Vertrauen darauf, dass ihr euren Job gut gemacht habt … Es ist vollkommener Irrsinn, dass ich im Nachhinein noch schau, ob das wirklich so ist.

Die Obduktion wird abgelehnt. Broschüren werden hinterfragt. Denn das übliche Prozedere, wie es normalerweise abläuft, ist ja schön und gut. „Aber man sollte auch einen annähernden Funken vom Worst-Case haben, der halt einfach auch eintreten kann.“, betont Eva. Außerdem hapert es an Gesprächs- und Austauschmöglichkeiten. Besonders in Fällen, wo bewusst abgetrieben werden muss, gibt es viel zu wenig Begleitung. Da steht ganz viel Schuld und Nichtwissen im Raum. Wie zum Beweis stelle ich innerlich fest, dass ich den Begriff „Fetozid“ bis dato nicht einmal gekannt, geschweige denn gewusst habe, wie er durchgeführt wird.

Neben dem offenen Umgang sei aber auch die Kehrseite durchaus legitim. Eva erinnert sich an eine bestimmte Reaktion im Umfeld der Familie, wo in den Anfängen der Trauerphase der Kontakt zur Betroffenen bewusst unterbunden wurde. Nur leider wurde dies ohne jeglichen Kommentar gemacht. Eine noch so knappe Aufklärung, dass man derzeit Abstand halten möchte, es einem zu nahe geht – aus welchen Gründen auch immer – hätte die Beklommenheit gelöst. Denn die betroffene Person hat kürzlich durchaus Härteres überstanden, als dass eine derartige Information Dinge ins Wanken bringen würde.

Sternenkinder sind weniger tabuisiert, als Fetozide und Abbrüche. Weil da noch viel mehr Scham drauf ist.

Für viele Momente ist Eva dankbar und ein besonderer Vergleich drängt sich ihr auf: „Denn gerade bei Menschen, die bewusst gehen können, weil sie nicht total mit Medikamenten niedergedrückt sind, ähnelt es total oft einer Geburt.“ Und auch in der Körperarbeit spürt man diese übergeordnete Verbindung fernab jedes spezifischen Glaubenssatzes. Im Körperlichen knüpfen wir an ein unbewusstes Wissen an, eine Art Basis, die uns alle vereint. Man muss nur Zulassen lernen und Offenheit kultivieren. Die Kanäle für das Universelle öffnen. Wo doch Religion und Wissenschaft brauchbare Anhaltspunkte liefern, bleibt die individuell zwischenmenschliche Verbindung, die wohl unmittelbarste. Über jede verbale Barriere erhaben, emotional nahbar und bewusst irrational.

Und hier knüpft auch die große Lehre an, die Eva aus dieser Zeit für sich mitnimmt. Denn das prognostizierte Datum der Entlassung war von Anfang an eine wage Hausnummer, an die man sich vorerst geklammert hatte. Auch die medizinischen Methoden haben immer erst dann gefruchtet, wenn die Mutter auch wirklich bereit dazu war. Bewegung konnte schlicht nur im Tempo des Gegenübers stattfinden. Trainierte Erwartungshaltungen und gutgemeinte Wünsche stehen dabei oft nicht im Einklang mit der Natur der Sache. Darum sollte in diesen Fällen vielmehr eine Schule des Vertrauens stattfinden, um Loslassen zu lernen. Auf meine obligatorische Frage verneint Eva die grundsätzliche Endlichkeit des Lebens: „Für mich hört’s nicht wirklich auf und fängt auch nicht wirklich an, weil es ein Kreislauf ist.“


  1. Der Begriff „Fetozid“ bezeichnet die gezielte Tötung und Entfernung eines oder mehrerer Föten im Mutterleib.– Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Fetozid ↩︎
By remo

Über das Projekt

Das Projekt sammelt Geschichten und Stimmen zum Thema ‘Sternenkinder’ und möchte dies in Form von Audioaufnahmen zu einem Animationsfilm verarbeiten.

Die gesammelten Ergebnisse der Gespräche, sowie Einblicke in das Handwerk des Animationsfilms sollen über diese Webseite einem interessierten Publikum zugänglich sein. Ebenso soll dieses Archiv betroffenen Menschen als Inspiration und therapheutische Anlaufstelle dienen.

Das hier beleuchtete Phänomen ist kein Seltenes, und gerät als gesellschaftliches Tabu oft in eine prekäre Nische, die zu seelischen Schieflagen führen kann. Für den Film und die Sammlung werden Menschen gesucht, die anderen Betroffenen neue Sichtweisen und heilende Perspektiven schenken wollen.